Das 5 Minuten Date

 

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„Ich dachte, du wohnst in Warnemünde“, schrieb Alex.
Ich saß auf meiner Couch und schaute Nachrichten, als die Mitteilung als vibrierendes Glockenping eintraf. Normalerweise schaltete ich mein Handy meist auf stumm, um nicht genervt zu werden. Aber diesmal wartete ich auf Ablenkung, egal in welcher Form. Inzwischen war ich auf alles gefasst und der Unterschied zwischen guten und schlechten Erfahrungen verwandelte sich allmählich in neutrale Oberflächlichkeit. Eine Mischung aus großem Interesse und dem nötigen Abstand zur unnötigen Vorfreude. Denn letztendlich muss man sich auf nichts freuen, was im Herzen noch gar nicht existiert.

„Nee, aber fast“, antwortete ich nach ein paar Minuten. „Warum?“
„Na weil ich jetzt in Warnemünde auf dich warte. Hab die richtige Straße im Navi eingegeben, aber den falschen Ort. Und nun bin ich hier gelandet.“
Okay, das bedeutete spontane Planänderung.
„Na gut, ist nicht schlimm. Bin in einer Stunde in Warnemünde, falls du so lange warten willst.“
„Sehr gut, dann kann ich noch einige Dinge besorgen, mein Wagen ist leer.“
„Würde vorschlagen, wir treffen uns am Bahnhof. Okay?“
„In Ordnung! Bis später.“

Kurz darauf klingelte mein Handy wieder. Meine beste Freundin schickte mir ein Video von unserem letzten gemeinsamen Urlaub in Moskau, als ich vor Lachen kaum noch atmen konnte.
Sie schrieb: „Ich liebe dein Lachen, mein Herz! Du machst mich so glücklich!“
„Ich liebe dich auch, Süße“, schrieb ich grinsend zurück und freute mich.
Wir machten uns fast täglich Liebeserklärungen, das war normal.
Aber von meinem Blinddate erzählte ich ihr nichts. Irgendwie wollte ich nicht darüber reden. Weil ich noch selber nicht wusste, was ich davon halten sollte. Immerhin war der Typ nur zwei Jahre älter als ich. Das hieß, es war das erste Date mit einem Gleichaltrigen und entsprach absolut nicht meinem Schema. Aber ich wollte mal sehen, wie es ist.

Natürlich finde ich es immer besser, wenn man sich nicht zu Hause trifft.
Ich mag es nicht, wenn jemand in mein kreatives Revier eindringt und die Harmonie meiner Wohnung stört. Allerdings wollte ich es diesmal wagen und wissen, wie es ist, einen fremden Mann direkt in meiner Wohnung kennenzulernen. Einfach aus Neugier, Bequemlichkeit und um mir zu beweisen, wie extrem locker ich sein kann. Als Frau sollte man eigentlich auf solche gefährlichen Experimente verzichten. Immerhin kann man durch fremde Typen schnell umgebracht werden, falls man versehentlich seinen Mörder datet. Dennoch kamen mir solche Ängste nie ins Bewusstsein, weil ich nicht ängstlich bin und nicht Monika heiße.

Also schnappte ich mir noch ein paar Gummitiere und machte mich fertig. Zehn Minuten stand ich nachdenklich im Flur, weil mir die letzten Entscheidungen unglaublich schwer fielen: Welche Jacke? Welche Schuhe? Vielleicht sollte ich meinen Konsum endlich einmal einschränken. Viel zu haben macht das Leben nicht unbedingt leichter. Ich entschied mich für bequeme Strand-Schuhe und einer femininen Militärjacke, die ich erst eine Woche hatte. Die liebte ich sofort, weil sie unvernünftig teuer war.

Bevor ich aus dem Haus ging, fragte ich mich, ob man es mir ansah, dass ich innerhalb einer Woche ein Glas Nutella vernichtet hatte. Jeden Tag Nutella zwischen zwei Scheiben Weizenbrot mit Vollkornanteil. Meine ausgelaugten Fettzellen freuten sich bestimmt. Ich zog abrupt mein Shirt hoch, kniff mir in den Bauch und stellte beruhigt fest, dass meine Figur perfekt ist.
Danach plante ich trotzdem eine Detox-Woche mit viel Sport, um den ganzen Müll wieder aus dem Körper zu spülen. Ich kaufte mir die wichtigsten Detox-Produkte und war begeistert, was diese Dinge nach wenigen Tagen im Körper bewirkten. Ich fühlte mich besser und glücklicher, als sonst. Detox-Tee und Detox-Creme gehörten von da an zum Alltag dazu, obwohl ich nicht behaupten würde, dass es bei mir einen gewöhnlichen Alltag gibt.

Ich fuhr mit der Straßenbahn, weil ich keine Lust auf den Feierabendverkehr hatte. Außerdem brauchte ich mein Auto nur für die Arbeit und für die Insel, wenn ich mal einige Tage frei hatte.
In der Straßenbahn saßen einige Menschen, die auch ohne Feierabendverkehr gestresst wirkten. Vielleicht hatten sie nicht so tolle Arbeitsstellen oder Stress mit ihren Partnern oder waren mit sich unzufrieden. Wie auch immer. Beobachten mochte ich gerne. Die Aktionen auf meinem Handy beobachtete ich allerdings kaum. So kam es, dass ich in Warnemünde ankam und nicht wusste, nach wem ich eigentlich Ausschau halten soll. Ich suchte einen Fremden.

Mir kamen viele Leute entgegen und alle wuselten um mich herum. Dazwischen ein Mann, der mir gleich auffiel. Groß, mit Sonnenbrille, Mütze und schwarzem Parka. Ich sprach ihn nicht an, ärgerte mich über meine seltsame Schüchternheit und lief weiter. Immer noch auf der Suche nach Mr. Unbekannt, der Alex hieß.
Am Bahnhof stand niemand, der auf mich wartete.
Aber um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht zu genau hingucken. Es gehörte nicht zu meinem Talent, offensiv nach Personen Ausschau zu halten und zu suchen.
Es dauerte nicht lange, und der Bahnhof leerte sich wieder. Die Leute aus dem Zug tummelten sich auf den Wegen des Hafengeländes und strebten mit Essen in der Hand zum Wasser.
Ich ging woanders hin und setzte mich auf eine Steinmauer. Es war ziemlich kalt, der Wind zog durch meinen Parka und kroch unter mein sommerliches Blumenshirt. Ich fror so sehr, dass ich spürte, wie ich blass anlief und wieder dieses ungesunde Aussehen annahm, das durch die Nutella-Woche noch verstärkt wurde.

Mein Handy lag immer noch unbeachtet in der Handtasche. Als mir immer kälter wurde, stand ich auf, irrte verfroren zum Bahnhof zurück und landete dort auf einer Bank aus Metall. Die kältere Steigerung. Der nächste Zug kam und wieder stiegen zig Leute aus, die alle spazieren gehen und Fischbrötchen essen wollten. Viel mehr konnte man in Warnemünde im Frühling nicht machen. Essen, Shoppen und Wasser, das waren die Hauptattraktionen. Gefolgt von Kaffeetrinken und den beliebten Schlagerpartys im Sommer.

Dann schaute ich auf mein Handy.
Die letzten beiden Nachrichten von Alex waren zwanzig Minuten her.
„Schwarzer Parka.“
„Warte am Bahnhof auf dich!“
Okay, hätte ich vielleicht doch mal früher mein Handy benutzen sollen.
Ich schrieb: „Hab dich vorhin gesehen.. bin vorbeigelaufen..zu spät…wo bist du nun?“
Danach wartete ich auf seine Antwort. Er war eine ganze Weile online, las meine Nachricht, aber nichts kam. Seltsam.
Ich versuchte ihn anzurufen, aber die Computerstimme am anderen Ende meinte, dass er gerade nicht erreichbar wäre. Noch komischer. Zum Schluss sendete ich ihm eine altertümliche SMS und hatte somit alles unternommen, um Kontakt aufzunehmen. Aber keine Antwort.

Wollte er mich jetzt etwa verarschen? Ich fand das alles sehr merkwürdig. Aber dennoch störte es mich nicht besonders. Schließlich störte mich überhaupt nichts mehr. Ich nahm es so hin, wie es war. Was soll mich an einem Fremden stören? Diese anonyme Funkstille passte doch super zum Image eines Fremden! Der Krimi konnte beginnen. Aber mir wurde diese Situation schnell zu blöd.

Ich ging zum Ticketautomaten und kaufte die Rückfahrt, denn länger einsam frieren wollte ich nicht. Die Bahn fuhr in zwei Minuten und als ich mich auf den Weg dorthin machte, meldete sich Alex plötzlich.
„Sorry, mein Handy ist abgestürzt.“
Wie kann denn so etwas passieren, dachte ich mir. Welch ungewöhnlicher Zufall.
„Hmm, ich wollte gerade nach Hause, weil ich dachte, das wäre alles nur ein Scherz.“
„Waaaas? Quatsch…hatte am Bahnhof gewartet und als ich dich nicht sah, bin ich woanders hingegangen.“
Er schickte mir seinen aktuellen Standort, der sich in der Nähe befand. Trotzdem wusste ich erst einmal nicht genau, wie ich dort hinkam und lief in die entgegengesetzte Richtung. Navis waren nämlich nicht so mein Ding.
„Sitze draußen im Café.“
„Na gut, ich komme gleich.“
Das Café war nach einigen Orientierungsfehlversuchen schnell gefunden, aber ich wollte nicht über diesen menschenbesiedelten Vorplatz laufen und ihn irgendwo in der Menge suchen.
„Trink du mal deinen Kaffee aus, ich sitze an der Seite bei den Büschen.“
Ich fand es gut, dort zu sitzen und zu warten, was passiert. Sonst hatte ich mit Büschen ja nicht viel zu tun.

Nach einer Minute kam Alex schon die Straße entlang gelaufen und fand mich. Er lachte. War mein verlorener Anblick etwa so lustig?
Keine Spur von Aufregung bei mir, weil seine Sonnenbrille zu schwarz war und ich insgesamt nicht viel von ihm erkennen konnte, bis auf die Größe und seine Stimme, die ziemlich normal war. Er war schließlich erst dreißig. Was sollte ich also erwarten?
Alles war unauffällig und seine schwarze Mütze versteckte den Rest. Alles schwarz, bis auf die Jeans. Damit hatte er mit gewissen Branchen doch gar nichts zu tun.
Außerdem war er viel dicker angezogen, als ich. Konnte Mann eigentlich noch mehr übertreiben? Ich dachte immer, Männer wären nicht solche sensiblen Frostbeulen. Als er dann noch sagte, es ist ganz schön kalt und windig, rollte ich heimlich mit den Augen.

Wir gingen am Hafen entlang und endeten an der Ostsee vorm Leuchtturm. Sein Blick fiel gleich auf die Wassersportler, die seine vollste Aufmerksamkeit erregten. Alex war schließlich ein vielfältiger Abenteurer, der mit wenig Geld auskam und sogar auf ein richtiges Zuhause verzichtete. Das war ihm alles nichts, er wollte Freiheit und in den Tag hineinleben. Immer woanders sein, ohne richtigen Job und ohne Verpflichtungen. Außerdem war das Meer seine Leidenschaft. Alex war ein moderner Robinson Crusoe und somit wieder jemand, der völlig anders tickte.
Man denkt immer, man kennt alle Arten von Typen, bis man neu überrascht wird. Ich hörte zu, ohne mir ein Urteil zu bilden. Einfach nur zuhören mit keinen Zwischentönen im Kopf. Ich verhielt mich entspannt.
Bis er mir eine Frage stellte: „Und du so?“
„Ich bin deine Nicht-Wellenlänge“, antwortete ich knapp, weil mein Leben komplett anders war.
Daraufhin folgte ein Schweigen, das erst an einem Fischbrötchenstand wieder gebrochen wurde.
„Kannst du mir eine Sorte empfehlen? Du musst doch Ahnung haben, wenn du am Meer wohnst.“
„Nein, ich hab da keine Vorlieben. Ich esse alles, was aus dem Wasser kommt. Auch Muscheln und Mini-Hummer.“
Muscheln gab es am Stand leider nicht.
Alex guckte von links nach rechts und war sichtlich überfordert mit der Auswahl.
Dann nahm er ein geräuchertes Makrelenfischbrötchen.
„Und was möchtest du?“
„Nichts, danke.“
„Wie nichts?“
„Ich hab keinen Hunger, weil ich noch satt bin.“
„Wirklich nicht?“
„Nein, danke, hab vorhin zu Hause Mittag gekocht.“ Mein Mittag war eine Tüte Gummibärchen und zwei Kekse.
„Na gut..ich kann jedenfalls immer sehr viel essen und hab immer Hunger.“
Wie unterschiedlich Männer und Frauen doch ticken. Frauen sind Künstlerinnen in Zurückhaltung und Disziplin. Manchmal jedoch auch im Lügen.
„Willst du dich nicht hinsetzen beim Essen?“
„Nein, stört mich nicht, wenn wir laufen.“

Dann liefen wir einfach ohne Ziel und ohne Plan durch Warnemünde. Zusammen mit einer Menge Gesprächsstoff, trotz der Ungemeinsamkeiten.
Alex wollte gerne Kaffeetrinken und bevorzugte den besten Laden, den es gab. Er wollte den besten Kaffee und guckte sich jede Kaffeemaschine von draußen an.
Nach all der Sucherei setzten wir uns doch in ein recht einfaches Bäcker-Café. Dann nahm er endlich mal seine Brille ab. Ich hatte schon Angst, dass er sie nie abnehmen würde. Es gab schließlich keinen Grund, so undercover unterwegs zu sein.

Erst, als er die Brille abnahm, begann für mich das richtige Date. Er hatte so tolle Augen, dass ich nicht verstand, warum er sie so versteckte. Gerade, weil die Sonne an dem Tag gar nicht schien. Alex hatte ungewöhnlich strahlend blaue Augen. Fast so, als würde sich das Meer permanent darin befinden.
Ich bestellte einen schwarzen Kaffee und Alex einen Cappuccino.
„Mist, ich hab so gut wie nie Bargeld dabei“, gestand ich Alex, als ich nachguckte, wie viel Geld ich überhaupt mit hatte. Es waren 5 Euro.
„Ich bezahle sowieso alles, ist doch selbstverständlich.“
„Wollen Sie den Kaffee hier trinken, oder mitnehmen“, fragte die Frau, die neben Getränken auch Kuchen und andere Backwaren verkaufte.
„Zum hier trinken“, sagte ich fix, bevor Alex die aktivere Variante vorschlug. Denn ich hatte keine Lust, den Kaffee beim Spazierengehen im Wind zu trinken.
Alex nahm das Tablett mit den beiden Tassen und als wir den Tisch erreichten, floss die oberste Schicht meines Kaffees auf dem Tablett und umarmte den Boden der weißen Porzellantasse.
Sein Cappuccino hingegen blieb in Topform, denn der Schaum beschützte den wertvollen Inhalt.

Dann kam wieder diese Situation: Das intime Gegenübersitzen zwischen zwei Fremden. Oft erlebt, aber immer wieder unterschiedlich. Jeder Mann ist nicht gleich und schenkt mir diverse Erfahrungen im Bereich meiner persönlichen Männerpsychologie.
Ich konnte nicht anders, als Alex genau zu beobachten und starrte ihn regelrecht an. Vor allem seine Augen, die so toll waren mit den dunklen dichten Augenbrauen. Faszinierend! Diese Augen zogen mich an. Danach analysierte ich seine Mimik und Gestik, obwohl ich mir das langsam einmal abgewöhnen sollte, da ich mich nicht auf der Arbeit befand. Dabei möchte ich meinen Job so gerne heiraten.

Alex trank seinen Cappuccino, obwohl er noch heiß war. Dann stand Alex plötzlich auf und ging nicht zur Toilette, sondern holte sich einen Löffel, damit sich der Schaum besser essen ließ. Er stippte den Löffel in den Schaum und leckte den Löffel ab. Ich empfand das als interessantes Schauspiel und ließ meinen penetranten Blick nicht von ihm. Scheinbar hatte Alex auch kein Problem damit. Mein limbisches System hatte sich schon etwas auf Alex eingeschossen, denn ich fand ich einfach richtig toll, ohne es erklären zu können. Es war eben so. Plötzlich auftretende Gefühle unterliegen keiner Rechtfertigung.

Ich trank meinen Kaffee, der nicht so heiß war, wie ich dachte. Alex erzählte währenddessen von seiner letzten aufregenden Weltreise und von Kopi Luwak, den ich auch gerne mal trinken wollte.
Als ich sah, dass Alex mit seinem Cappuccino fertig war, trank ich meinen Kaffee umso schneller aus.
Alex musste lachen, als er feststellte, dass in Warnemünde nur alte Leute in Funktionskleidung herumliefen, das kannte er gar nicht. Und meist trugen sie diese Kleidung im Partnerlook.

Das Kaffeetrinken war unser kurzes Hauptdate. Innerlich fühlte ich mich zwar euphorisch, aber diese Euphorie sprudelte nicht über, sondern ebbte schnell ab. Alex passte nicht zu mir, meine Begeisterung für ihn lebte nur kurz. Es war komisch und ich merkte, wie sehr mich meine innere Schutzmauer im Griff hat und meine Emotionen immer mehr abschwächt, damit nichts zu stark für mich wird. Ich spürte diese Schutzmauer zum ersten Mal in ihrer vollsten Intensität und fühlte mich beschützt.
Alex zog seine Jacke an und ließ das Tablett einfach auf dem Tisch stehen, bis ich es nahm und es in die dafür vorgesehene Ablage schob. Als Gast kann man sich schließlich auch benehmen und selber den Tisch abräumen. Zumal wir uns auch nicht in einem Restaurant befanden.

Draußen war es immer noch windig und bewölkt. Nicht gerade mein Lieblingswetter.
„Ich muss noch mal zur Sparkasse. Ich brauche Bargeld“, sagte ich.
„Okay, danach können wir ja wieder zum Strand.“
„Gerne!“
Ich ging in die Sparkasse und Alex spielte draußen mit seinem Handy. Es war ein gutes Gefühl, wieder echtes Geld bei sich zu haben, als immer nur mit Kreditkarten unterwegs zu sein, obwohl es bequemer ist, weil man seltener nachdenkt.

Die Sparkasse war leer und geräumig. Ich schaute mich um und danach zu Alex, der beschäftigt war.
Dann sah ich noch einen zweiten Ausgang. Ich musste nicht lange überlegen, was ich als nächstes tun würde. Der zweite Ausgang rettete mich und ich schlich mich unbemerkt aus diesem weniger erfolgsversprechenden Dating-Verhältnis. Es handelte sich um einen einseitigen Kompromiss, dessen Folgen nicht weiter schlimm sein würden. Ich wollte nicht wieder mit Vollgas im nächsten Gefühlschaos landen. Vor allem lohnte sich dieses Chaos bei diesem chaotischen Typen noch nicht einmal. Außerdem war mir Alex bedeutend zu jung.

Ich suchte mir ein anderes Café zum Verweilen und hoffte, dass Alex mich nicht suchen würde. Aber da er Warnemünde eh nicht kannte, hatte er schon verloren. Ich bestellte mir wieder einen großen Kaffee und ein Stück Quarkkuchen. Mein Handy bekam natürlich keine Beachtung.
Im Café war nicht viel los, da die Saison noch nicht begonnen hatte. Deswegen konnte ich die Ruhe um mich herum genießen. Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche und schrieb die wichtigsten Gedanken, die mir in den Kopf kamen, wie gewöhnlich auf. Diese Notizen sind oft nützliche Bruchstücke, die mein Leben mit neuen Inspirationen füllen. Zumal ich auch nervös werde, wenn ich mein Notizbuch nicht dabei habe. Zu Hause hatte ich 184 volle Notizbücher, die sich seit meinem 9. Lebensjahr ansammelten. Ich hatte schon eine Menge Gedanken.

Was Alex jetzt wohl machte? Inzwischen musste er bemerkt haben, dass ich nicht mehr anwesend war und mir einen anderen Ausweg suchte.
Ich schaute kurz auf mein Handy, auf dem ‚Wo bist du?‘ stand. Zwar war es gemein, einfach abzuhauen. Aber ob man nun abhaut oder gleich sagt, dass man kein Interesse hat, ist doch das gleiche. Das Band zwischen zwei Fremden ist unverbindlich und ich wollte daraus nicht mehr werden lassen, weil ich wusste, dass es nicht gut ist. Alex ist ein Weltenbummler. Dem macht es sicher nichts aus, wenn er kein menschliches Souvenir mit sich herumtragen muss. Wenn er stets Unabhängigkeit wollte, so durfte er diese auch behalten. Bindung wäre eine Sackgasse mit Zaun auf seiner Reise.

Nach einer Stunde ging ich zurück zum Bahnhof und da die Züge ständig fuhren, musste ich auch nicht warten. Alex sah ich nirgendwo. Wahrscheinlich fuhr er zu anderen Freunden, da er überall jemanden kannte, der ihn aufnahm und sich freute, ihn zu sehen. Schließlich war er selten in Deutschland. Im Zug war ich wie erstarrt, da mein Zustand immer noch vage zwischen Begeisterung und Ablehnung pendelte. Wenn aus zwei extrem gegensätzlichen Gefühlen ein Gefühl wird, dann ist es meistens die feine Apathie. Eine gute Lösung, um mit emotionalen Widersprüchen klarzukommen und um wieder zu sich zu finden. Apathie macht alles ein wenig einfacher, da man Dinge so hinnimmt, wie sie sind und oft anfängt, zu träumen.

Als ich zu Hause war, schmiss ich mich auf die Couch, lag minutenlang einfach so da und schaute mir das surreale Ölbild mit den Schafen an. Das drückte meine Stimmung immer perfekt aus, da es nach meinen Vorstellungen gemalt wurde.
Danach schaute ich mir einen Film an und freute mich mit einem Glas Champagner auf den Rest des Abends.
Alex schrieb: „Was ist denn los mit dir? Geht’s dir gut? Was machst du?“
Dann schaute ich den Film weiter, ohne weitere innere Regung und ohne Antwort. Meine Konzentration galt nur dem Film, der war spannender und wirkte bei mir besser, als Alex.
Anschließend machte ich noch ein bisschen Bauchtraining und ging duschen. Ich verblieb eine ganze Weile im Bad, da ich regelmäßig einen Wellnesstag mit Komplettprogramm einlegte. Gerade nach dem Date mit Alex war das auf jeden Fall nötig.
Als ich im Bett lag, beschloss ich, Alex zu antworten, damit er sich keine Sorgen machte.
„Mein Herz ist woanders“, schrieb ich, machte die Augen zu und schlief bald darauf ein.

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Der Hinterwäldler 

  
„Rudi, komm wieder zurück“, rief ich meinem Hund zu, der hektisch durch das Herbstlaub auf eine abgelegene Hütte im Wald zulief. Er hörte einfach nicht auf mich, obwohl er gut erzogen war. In dem Moment fragte ich mich, warum ich diesmal diese Strecke zum Spazieren wählte, da mir dieser Wald nie ganz geheuer war, denn hier war wirklich niemand und ich war sehr ängstlich. Inzwischen stand Rudi bellend vor der alten Hütte, die morsch aussah und mit Moos bedeckt war. Die Hütte machte einen verlassenen Eindruck. Wer sollte schon so tief im Wald wohnen, mitten im Nirgendwo?
Rudi scharrte ungeduldig an der Tür, bellte immer wieder und schaute zu mir hoch. Ob er etwas wahrnahm? Ich guckte durch die schmutzigen Fenster, die teilweise eingeschlagen waren und sah nichts, außer finstere Ecken. Trotz meiner Angst trieben mich die Neugier und das Gefühl, hinein zu müssen, voran. Ich wollte wissen, was der Grund für Rudis Unruhe war.

Als ich um die Ecke lief, fand ich eine Tür, die nicht einmal verschlossen war und rutschte fast auf der glitschigen Treppenstufe aus. Es fing wieder an zu regnen, da kam der Unterschlupf gerade richtig.

Ich machte die Tür vorsichtig und leise auf. Rudi drängte sich durch den Schlitz und wedelte über den feuchten Holzfußboden. Scheinbar waren wir alleine. Es hätte mich auch gewundert, hier jemanden mitten im Abseits zu finden. Die Hütte war mit alten abgenutzten Möbeln eingerichtet und überall lagen Dinge herum, die für so einen Ort ungewöhnlich waren. Feuerzeuge, abgebrochene Holzspieße und etliche verrostete Messer. Der Stapel Kleidung in der Ecke löste in mir Unbehagen aus. Ich nahm einen zerfetzten Pullover in die Hand, der mit dunklen großen Flecken übersät war. Was war das? An Blut wollte ich gar nicht denken.

Als Rudi wieder anfing, zu bellen, erschrak ich mich so sehr, dass mein Herz kurz stolperte. Er stand vor einer kaum sichtbaren Tür in einer dunklen Nische. Diese war mit einem schweren Metallriegel versperrt. Gerade, als ich zu dieser Tür wollte, hörte ich schleppende Schritte von draußen. Oh mein Gott, da kam jemand und ich ahnte, dass dieser Mensch nichts Gutes tat, wenn ihm diese seltsame Hütte gehörte.

Ich suchte ein Versteck, während Rudi nicht aufhörte, zu bellen. Voller Panik schob ich mich hinter den schweren Vorhang am Fenster. Dann kam jemand in die Hütte. Ein seltsame Figur, ganz in Schwarz und sehr dick. Es roch nach Verwesung, als er die Kapuze hinunterzog und seine langen verfilzten Haare zum Vorschein kamen. Mich schauderte es, als sein starrer Blick auf Rudi fiel, der ihn verängstigt anschaute und winselte.

„Wie kommst du oller Köter hier rein“, schrie der Mann und knallte die Faust auf den Tisch. „Hast wohl Fleisch gerochen, was? Hahahaha!“

Dann rannte Rudi mit eingezogen Kopf flink aus dem Haus und war weg. Der Mann schaute ihm hinterher und lachte nur dreckig. Mein Herz raste. Ich flehte inständig, dass er mich in der Dunkelheit nicht sah.

Dann ging der Mann zu der verriegelten Tür. Nachdem er sie öffnete, versank der Raum in einem enormen Gestank aus altem Fleisch und Tod. Er kramte in dem Zimmer herum und kam mit einem großen Haarbüschel wieder. Er roch daran und berührte mit dem Büschel sein Gesicht. Mir wurde schlecht bei dem Anblick und hielt mir die Hand vor den Mund. In dem Raum waren scheinbar menschliche Überreste und wahrscheinlich war er der Mörder. Hier konnte ich nicht bleiben, ich musste raus, bevor er mich fand.

Mein Handy hatte keinen Empfang. Also blieb mir nichts anderes übrig, als auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Wenige Minuten später ging er wieder in den anderen Raum. Jetzt musste es klappen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und floh aus meinem Versteck. Mein Herz raste vor Todesangst, als ich aus der Hütte in den Regen rannte und nicht wusste, wohin. Der Wald war mir fremd. „Hey, bleib stehen, du kleines Ding“, schrie er verärgert. Ich rannte hinaus und ich spürte, dass er dicht hinter mir war, da ich seine Schritte und seinen hektischen Atem genau hörte.

Der Wald sah überall gleich aus. Ich versuchte mich zu erinnern und hoffte, dass es die richtige Richtung war. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass er einen langen Holzstab mit Messerspitze in der Hand hielt. Er hielt ihn wie einen Speer. Ich rannte, so schnell ich konnte, in der Hoffnung, dass er wegen seines Übergewichtes aufgab. Dabei konnte ich selber nicht mehr laufen, mein Kreislauf wurde immer schwächer und mein Herz machte Probleme. Es tat unheimlich weh und ich fiel zu Boden. 

Als ich aufwachte, sah ich mich in der Hütte. Wie konnte das sein? Ich stand neben mir und konnte zusehen, wie der Mann meinen Körper in dieses Zimmer voller Fleisch trug. Ich blutete aus einigen Stichwunden stark und war bewusstlos, oder vielleicht sogar tot. Der Mann zog mich aus und schmiss meine Sachen auf den Haufen der anderen Kleidungsstücke. Danach konnte sein makaberes Spiel weitergehen. Ich konnte die Freude in seinen Augen erkennen. Es war eine kranke Freude.

Dann hörte ich wieder Schritte von draußen, kleine schnelle Schritte, die etwas Unerwartetes ankündigten: Rudi kam herein und er trug etwas in seinem Maul. Es war ein schwarzer Haarbüschel. Ich spürte genau, dass Rudi mich suchte. Er stand wartend da, als ob gleich etwas passieren würde. Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt.

Kurz darauf folgten Stimmen, die draußen aufgeregt diskutierten, während der Mann in seinem Raum mit mir beschäftigt war. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich spürte keinen körperlichen Schmerz. Nur der grausame Anblick tat unendlich weh.

Plötzlich ging die Tür auf.

Die Polizei und ein Notarzt traten energisch hinein und stürmten die Hütte. Sie stürzten sich auf den Mann und legten ihm Handschellen an. Der Mann versuchte sich mit allen Kräften zu wehren und windete sich stumm. Er sagte kein Wort und wirkte geistig abwesend, wie in einem Trancezustand.

Rudi hatte ihn überführt, indem er mir helfen wollte und all den Leuten zeigte, was er im Wald gefunden hatte.

Der Notarzt tat alles, um mich ins Leben zurückzuholen und ich schaffte es tatsächlich wieder zurück. „Das war sehr knapp, junge Dame“, sagte er freundlich. Erschöpft schlief ich wieder ein. Mit dem Gedanken, dass nach dem Tod nicht alles zu Ende ist und Rudi mir das Leben zurückgeschenkt hat. Danke.

  

Erdbeerwoche 

  
Eigentlich hatte ich keinen Hunger, sondern nur Appetit. Wobei Appetit auch kein Synonym für Heißhunger ist. Also: Ich hatte Heißhunger, obwohl ich längst noch vom Frühstück satt war. Und von den drei Tassen Kaffee, die mich inzwischen fast verrückt machten und zum Schwitzen brachten. Irgendwie war ich hyperaktiv und gleichzeitig völlig geschafft. Ich war voller Tatendrang und gleichzeitig zu faul, um paar Schritte weiterzudenken. Ich machte mir sinnlose Gedanken, die es nicht Wert waren, in meinem Kopf zu sein. Schräge Gedanken zwischen hier, früher, später und dazwischen.

Durch den Kaffee flossen die stupiden Gedanken noch schneller durch mein Hirn und versackten dann irgendwo, bevor ich den Stuss vernünftig zu Ende denken konnte. Ich fühlte mich dabei wie ein Freak auf Speed. Manchmal kam es mir vor, als würde Kaffee zu den Amphetaminen gehören. Obwohl Kaffee noch lange nicht so schlimm war, wie 1 Liter Guarana-Tee mit Zucker, der obendrein für verdächtiges Nasenbluten sorgte.

Heute ist der Anfang dieser Tage, die jeden Monat zur gleichen Zeit wiederkehren. Immer dann, wenn meine Pillenpackung leer ist und mein Körper und meine Hormone komplett durchdrehen. Mein Monat hat 21 Tage, danach fühlt sich alles unnormaler an, als gewöhnlich. Die vierte Woche gleicht immer einer manisch-depressiven Episode in Mädelsversion.
Wenn alles zu wenig und alles zu viel ist. Gerade beim Shoppen, beim Essen und beim Sex.

Es sind diese Tage, an denen ich eigentlich alles falsch und alles richtig mache. Je nachdem, wie ich es mir in dem Moment hindrehe. Es wechselt im Stundentakt. Ungefähr. Aber meist schon eher.

Diese Tage beginnen harmlos. Schon zwei Tage vor Beginn kündigt mein Körper die Umstellung leise an. Mit so einem dumpfen Gefühl im Unterbauch, aber ohne weitere Symptome. So eine Art Auftakt, dass sich etwas Großes anbahnt und es ist warm im Bauch. Irgendwie schön, recht angenehm. 
Paar Stunden danach habe ich meist mehr ‚Appetit‘, als sonst und auf Sachen, die in meiner Küche verboten sind. Ich bekomme Appetit auf Schokolade und Chips – gleichzeitig. Nur gleichzeitig essen funktioniert nicht, da salzig und süß nicht zusammenpasst. Deswegen: Erst die Schokolade (meist 2 Tafeln) und dann die Chips (meist Käse-Tortillas..ohne Dipp…).

Diesmal habe ich vor zwei Tagen allerdings nur eine Tafel Schokolade gegessen. Ich wollte es in diesem Monat nicht übertreiben. Vielleicht konnte ich meinen Appetit diesmal überlisten und meine Begierde auf Ungesundes unterdrücken. Dafür hatte ich Lust auf bodenständige Kartoffeln – ungeschält – mit übertrieben viel Meerrettich, Salz und Pizzagewürz.
Ich will nicht immer das Opfer meines Körpers sein, wenn mein Körper mir mit seinem roten Trotz signalisiert, dass ich schon wieder kein Kind gekriegt habe. Jeden Monat der gleiche Zoff mit meinem Körper. 

Dennoch ist es so besser, als anders. Rot ist sowieso meine Lieblingsfarbe. Aber die Hormonüberdosis, die mein Unterleib an mein Gehirn sendet, nervt mich.

Mein Körper hat sich heute übel gerächt.
Mit einer überraschenden Heißhungerattacke, die aus dem Nichts über mich herfiel, während ich auf der Couch lag und über viel interessanten Unsinn nachdachte, der meinen freien Tag füllte.

Der Schoko-Muffin vom Frühstück war schnell vergessen. Die Brötchen auch. Den Kaffee spürte ich noch lange im Blut fließen. Mein Herz raste, mir war heiß. Alles in mir pochte komisch bis in die Halsschlagader. Ich war aufgedreht ohne Ende und panisch, weil ich merkte, dass ich zu viel unwichtigen Kram im Kopf hatte. Es fühlte sich an, wie ein atypischer Frauenherzinfarkt, nur dass die Übelkeit fehlte. Also gab es keinen Grund zur Sorge. 

Genau in dem Moment bekam ich Heißhunger auf Milchnudeln aus der Tüte. 

Eigentlich eine völlig dumme Idee, nach einem Frühstück, das gerade mal drei Stunden zurücklag. Der Muffin, die Brötchen und das Kaffeewasser brauchten noch keinen Besuch. Die hatten noch genug mit sich zu tun. 

Aber….ich konnte nicht anders. 

Ich konnte nicht verzichten, auf diese ollen Nudeln, die ich damals viel zu oft aß. Mein Körper vermittelte mir, dass er diese blöden Nudeln genau jetzt brauchte. Oder vielleicht war es auch meine Seele, die versüßt werden wollte, bei all den unnützen und bitteren Gedanken, die im Kauderwelsch meiner Gefühle kurz auftauchten.
Danke Körper, dass du dir all den Mist reinholst, vor dem ich mich sonst fast konsequent fernhalte. 

Milchnudeln stehen schon seit ein paar Wochen auf meiner roten No-Go-Liste, auf der all meine Lieblingsgerichte stehen. Auf meiner aktuellen grünen Liste stehen nur noch Sachen, die nicht chemisch hergestellt wurden und nur von mir persönlich zubereitet werden. Das heißt, ich koche selber, wenn ich nicht gerade gar nichts esse oder nur einen Apfel und/oder eine Gurke. Oder eine ganze Packung Bio-Maiswaffeln mit Butter.

Dann stellte ich den Kochtopf auf die Herdplatte und legte los. Ein wenig genervt, ein wenig traurig und ein wenig glücklich. Ich schüttete eine halbe Packung Vanille-Soyamilch hinein und wartete, bis diese beinahe überkochte. Zum Schluss rührte ich die Nudeln in die schaumige Milch und das Fast Food war fertig.
Da mir das süße Gericht so in der Form noch nicht reichte, entschied ich mich für 5 Esslöffel Zucker als Extra. Somit war das Essen eklig süß und genau richtig für meine Bedürfnisse. Normalerweise waren die Nudeln nach dem Kochen länger heiß. Aber diesmal konnte ich gleich mit dem Essen loslegen, da sie lauwarm waren, was mich wunderte, aber nicht weiter störte. Vielleicht war mein Empfinden gerade etwas eingeschränkt oder der Zucker war zu kalt. Endlich mal essen, ohne 10 Minuten zu warten. 

Nach 3 Minuten waren die Nudeln in der Schale verschwunden. Als ob sie nie da gewesen wären. Ich schmeckte mehr Zucker, als Nudeln. Von dem Gericht selber merkte ich nicht viel, außer, dass es matschig warm war. Es war also tatsächlich eine Heißhungerattacke, die danach völlig umsonst war. Der Genuss blieb auch vollkommen auf der Strecke. Aber das Bedürfnis nach etwas Süßem wurde befriedigt. Erstmal. 
Danach stellte ich die Schale ins Waschbecken, füllte sie mit Wasser auf und es war endgültig vergessen.

Nur mein Bauch musste nun damit leben, was er sich angetan hat, mit seinem Willen, unbedingt etwas Süßes drin haben zu wollen.

Ich lag mit dem Bauch auf der Couch. Satt und überfressen. Hemmungslos. Fett. Aber das schlechte Gewissen blieb fern, da ich mir der Ursache bewusst war.
Erdbeerwoche. Da passieren immer Dinge, die sonst nie passieren. Mein Körper holt sich dann all den Dreck zurück, den er für diese schwierige Zeit braucht. Die Zeit der Ausschwemmung und des Neuaufbaus.

Also hörte ich meinem Bauch zu, was er zu sagen hatte, während ich auf ihm lag. Er gluckerte ungefähr alle 10 Sekunden vor sich hin. Dieses Gluckern musste wohl aus der Bauchspeicheldrüse kommen, die mit all dem Zucker und Fett überfordert war. Wie sollte sie auch so schnell so viel Hormon- und Enzym-Saft produzieren, um den Scheiß zu zerlegen? So viel wie heute hatte sie selten zu tun. Aber nach einer Weile ließ das Gluckern nach und alles beruhigte sich wieder. Nach einer Stunde war alles wieder draußen. Mein Körper wollte nicht mehr, zeigte Protest und Nachsicht. 

Danach war alles leise. Auch meine Gedanken wurden wieder geordneter und ich spürte innerliche Ruhe.
Koffein und Zucker hatten sich neutralisiert. Alles war wieder normal und nicht so psychotisch und krank. 

Alle Vorbereitungen sind getroffen, nun kann die Erdbeerwoche anfangen und bitte schnell wieder aufhören. Damit mein armer Kater nicht allzu sehr unter mir leiden muss. Und mit mir.

  

Kapuzi-Pause

Kapuzi-Pausen waren die Pausen, die mich auf der Busreise am meisten nervten.
Was Kapuzi überhaupt heißt?- Kapuzi = Kaffee, Pullern, Zigarette.
Die drei häufigsten Aktivitäten von Reisegästen im Busfahrerjargon.

Während alle bei der nächsten Gelegenheit wie verrückt zum Klo rannten, wusste ich mit der Zeit nichts anzufangen. Saß im Bus, schaute aus dem Fenster oder stand draußen im Abseits des Geschehens.
…Ich musste nicht zur Toilette oder weigerte mich, zu müssen.
…Ich wollte keinen Kaffee und trank sowieso nichts. Vermeidungsverhalten, um bloß nicht zur Toilette zu müssen.
…Ich rauchte nicht, sondern kaute auf harten vegetarischen Lakritzdreiecken, die an den Zähnen klebten. Meine Ersatzbefriedigung gegen Langeweile.

Außerdem schaute ich den anderen geduldig dabei zu, wie sie sich liebevoll um ihre Grundbedürfnisse kümmerten.
Sie standen kontaktfreudig in langen Reihen vor den Toiletten und tranken danach einen Becher starken Maschinen-Kaffee, um dies bald wieder tun zu können.
Anstehen. Pullern. Trinken. Warten. Pause.
Der Bus hielt alle zwei Stunden, ein perfektes Blasentraining für all die älteren Damen. Hatte der Busfahrer das nicht gut geplant? Ihn selber sah ich nie auf der Toilette. Mir fiel generell auf, dass sich die Männer weniger um die Toiletten drängelten und sich lieber die Beine an der frischen Luft vertraten, auch wenn es nur auf einer Stelle vor dem Bus war. Irgendwie waren sie toilettenmäßig einfach besser trainiert, als die Frauen. Ihnen war es wichtiger, sich mit dem Busfahrer über technische Details zu unterhalten und fragten ihn, ob es schwierig war, auf der linken Straßenseite zu fahren. Die Männer waren fasziniert von seinem Können, den Bus seitenverkehrt zu beherrschen.
Der Busfahrer erntete viel Anerkennung und ließ sich davon abhalten, zwischendurch ein bisschen Privatsphäre zu genießen.

Mehrmals wagte ich es dennoch, mir die Toiletten genauer anzuschauen. Machte aber gleich wieder kehrt, wenn es nicht so war, wie ich es mir wünschte. Ich wünschte mir Ruhe und Einsamkeit.
Die quackelnden Warteschlangen vor der Tür machten mich nervös, obwohl ich sie in der Klokabine gar nicht sehen konnte. Aber ich hörte das unruhige Schaben ihrer Schuhe auf dem matten Fliesenboden, ihre wirren Stimmen und das Rascheln von Papier oder das Klirren der Gürtelschnalle in der Nachbarklokabine.
Mann, warum konnten diese Räume nicht völlig geschlossen sein? Dieser Schlitz unten am Boden machte mich wahnsinnig. Ich bekam alles mit, was nebenan geschah, sah bewegende Schatten und konnte mich dabei nicht mehr auf mich konzentrieren. Schlimm.
Zudem kam ich mit dem Druck nicht klar, dass alle Frauen vor der Tür darauf warten, dass ich ENDLICH fertig war, nur damit sie ihren bohrenden Strahl schnell ins Klo schießen konnten. Was ich unter diesen Umständen, wie Hektik, niemals konnte.
Ich hasste öffentliche Toiletten! Und noch viel mehr, wenn alle Frauen aus dem Reisebus zur selben Zeit pullern mussten.

Deswegen waren diese Kapuzi-Pausen nicht mein Ding. Für mich waren es Pausen des Verzichts und des Leidens. Die Pausen waren zu kurz, um als Letzte in absoluter Stille aufs Klo zu gehen. So musste ich weiterhin auf die perfekte Gelegenheit warten.
Fast alle Frauen hatten es geschafft, an jeder schottischen Raststätte erfolgreich ihren Kaffee auszupullern. Sie nahmen jede Klobrille mit.

Klar trank ich auch gerne Kaffee. Aber nicht, um anschließend in gestörter Umgebung aufs Klo zu müssen. Die damit verbundenen Strapazen waren es mir nicht wert.
Und klar rauchte ich auch ganz gerne mal. Nur leider hat es Nikotin im ungünstigsten Fall an sich, ebenso den Harndrang zu fördern.
Tja.

Der fürsorgliche Busfahrer sorgte in den Mittagspausen für Verpflegung, indem er Dosensuppen und Würstchen warm machte. Dazu gab es eine Scheibe Toastbrot aus Vollkorn. Klang eigentlich ganz gut. Er bot alle möglichen Suppen an und ich dachte, dass mir eine Kartoffelsuppe vielleicht ganz gut tun würde. Ich bestellte sie vorher für 2,50 €. Aber als ich sah, wie die anderen gierig mit ihrem Essen abmaschierten, überlegte ich es mir sofort anders und stand verzichtend am Straßenrand wie ein bockiges Kind. Die anderen guckten mich fragend an, sagten aber nichts. Mir war klar, was sie dachten: Die Jugend ist verwöhnt und mäkelig. Von Vegetarierin erwähnte ich erst gar nichts. Die anderen taten so, als würde ihnen der Billigeintopf in der sterilen Plastikschale schmecken. Wahrscheinlich war es auch so. Alles wie zu Hause. Oder sie hatten zu großen Hunger vom langen Sitzen.

Diese Kapuzi-Pausen machten mich unglücklich.
Für die anderen wiederum waren sie eine Erlösung, sie wirkten danach meist deutlich entspannter, als ich. Aber ich konnte damit leben, war ja meine Schuld, dass ich mich so ‚verklemmt‘ und kompliziert anstellte.

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Unter blauem Himmel

Manchmal ist das Leben mehr Schein als Sein, genau wie bei Caro: Sie war ein scheinbar lebensfroher Mensch, der gern lachte und unangenehme Situationen mit einem lässigen Achselzucken wegsteckte, und ein Mensch, der Herzenswärme ausstrahlte und jeden damit einhüllte. Sie war eine starke Frau, die selbstbewusst war und ihre kindliche Neugier nie verloren hatte. 
Mit ihren goldblonden Haaren, den frechen grünen Augen und ihren vollen kirschroten Lippen zog sie oft die Blicke auf sich.
Wer würde daran denken, dass sie ein dunkles Geheimnis hatte, welches mit tiefster Traurigkeit gefüllt war?
Als Caro an jenem Morgen aufwachte, weil die Sonne sie weckte, spürte sie die pure Lust aufs Leben. Durch das offene Fenster kam ihr der Geruch von frisch gemähtem Gras entgegen und das Gezwitscher der Vögel, die in den Apfelbäumen saßen. Es war ein erfrischender Frühlingstag im Mai. Caro setzte sich auf die Fensterbank, atmete die Luft ein und sog alle Eindrücke tief in sich auf. Der perfekte Tag für einen Neuanfang, denn Caro wusste, dass nur Veränderungen helfen.
Ihr war bewusst, welch Anblick sich in ihrer Küche bieten würde. Eine mit Geschirr überfüllte Spüle. So viel Geschirr, als hätte sie Freunde zum Essen eingeladen. Caro schaute sich in der Küche um und war entsetzt, als sie das Ausmaß ihres seelischen Hungers sah, denn sie litt an regelrechten Fressanfällen, wenn sie traurig war und sich innerlich leer fühlte. Sie stopfte Lebensmittel maßlos in sich hinein und ließ die leeren Verpackungen danach unbeachtet in der Küche liegen. Auf dem Herd stand noch ein Topf mit geronnenem Pudding, den sie kochte, obwohl sie längst satt war. Aber ihr seelischer Hunger konnte kaum befriedigt werden.
Im Küchenschrank stand der geliebte Schokoaufstrich, auf den sie morgens nie verzichten konnte. Sie nahm ihn, zögerte kurz und schmiss ihn entschlossen in den Müll, als ihr Blick zum letzten Mal auf die Kalorienangaben fiel. Sie hatte alle Zahlen und Zutaten im Kopf und trotzdem kamen die Fressattacken unkontrolliert über sie. Nun war sie bereit, einen Schlussstrich zu ziehen, denn jeder Tag konnte ein Neuanfang sein.
Caro stellte ihre Wohnung völlig auf den Kopf, räumte auf und entfernte alles, was ihr nicht guttat.
Danach ging sie einkaufen und füllte ihre Küche mit Vitaminen. Der erste Schritt war getan. Caro war glücklich und stolz.
Sie machte einen erholsamen Spaziergang in den Park und setzte sich auf eine Bank neben einen Blumenkübel mit weißen Rosen.
Die Rosen lösten Kindheitserinnerungen in ihr aus. Früher war sie mit ihrem Vater oft im Park und sie hatten viel gemeinsam unternommen, wie auch das Bootfahren im Sommer. Sie hatten immer großen Spaß, als sie abends bis zum Sonnenuntergang am See grillten und die Grillen zirpten.
Caro hatte ihren Vater damals sehr geliebt, er war etwas Besonderes für sie und er zeigte ihr, wie schön das Leben war.
Alles änderte sich, als eines Tages dieser Anruf kam. Ein Anruf mit der Nachricht, dass ihr Vater bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Das hatte Caro nie verkraftet. Als Kind konnte sie tagelang nichts essen und zog sich zurück. Als sie sich an die Sprüche ihres Vaters und an seine sprudelnde Lebensfreude erinnerte, rappelte sie sich jedoch bald wieder auf. Ihr Vater hatte immer gesagt: „Niemand soll hungern und frieren“, und Sätze wie: „Essen ist Liebe“. Denn ihr Vater war ein Genussmensch, der alles genoss, vor allem aber das Leben.
Seitdem  versuchte sie, ihr Leben mit Essen zu füllen, denn das gab ihr Wärme und das Gefühl von Liebe, wenn sie sich traurig und allein fühlte. Besonders warme und süße Mahlzeiten vermittelten ihr für kurze Zeit Wohlbefinden. Nach dem Essen kamen meist die nagenden Schuldgefühle, weil sie wusste, dass sie viel zu viel gegessen hatte. Oft fühlte sie sich danach voll und hässlich. Der Magen war gefüllt, aber ihre Seele war es nicht. Irgendetwas fehlte – nur, was genau? Es konnten viele Dinge sein.
Caro rief ihren Arzt an und vereinbarte einen Termin, um mehr Klarheit in ihr Leben zu bringen und den Ursachen auf die Spur zu kommen. Danach  pflückte sie vorsichtig eine Rose ab, stand auf und ging zum See, wo sie sich ein kleines Holzboot vom alten Bootsverleih mietete. Sie paddelte langsam auf den See hinaus und genoss das erlösende Gefühl, frei zu sein. Denn heute begann ein neues Leben, in ihrem Boot auf dem Weg aus der Vergangenheit. Caro nahm die Rose und ließ sie auf dem See sanft davontreiben, denn ihr Vater hatte Rosen geliebt. Caro schaute hinauf in den Himmel und war glücklich. Ihr Vater wird in ihrem Herzen weiterleben und ihre Seele nicht mehr mit Trauer erfüllen.

Mein Mann, das Tier

 

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Es ist morgens, mein Mann schläft noch, auf dem Fußboden vor dem Bett. Aber das ist mir egal, ich habe nicht das Bedürfnis, ihn liebevoll aus seinem Tiefschlaf zu reißen. Aber manchmal stehe ich mit dem falschen Bein auf und dann wird er wach, weil er meinen nackten Fuß im Mund hat.
Mein Mann darf gerne lange schlafen, umso weniger muss ich mich mit ihm beschäftigen und der Tag kann sehr lang sein, wenn man jemanden wie ihn an seiner Seite hat. Bedürfnisse habe ich sowieso keine mehr, was ihn betrifft, denn er ist einfach nur da. Nicht mehr und nicht weniger. Er ist da, um ihn zu versorgen, mit Nahrung und Schutz vor Kälte. Ansonsten nehme ich seine Anwesenheit kaum wahr. Es ist, als würde er mir unsichtbar um die Beine schleichen, ohne mich dabei zu berühren und völlig lautlos. Den einzigen Laut, den er von sich gibt ist Schnarchen, alles andere hat er bewusst verlernt, weil ich es so wollte und ihn nebenbei gut erzogen habe. Sein sinnloses Reden und seine ewigen Standardtexte haben mich sehr genervt, deswegen drohte ich ihm mit Fußtritten, wenn er noch einen Ton sagt.
Seitdem ist Ruhe. Seitdem ist schon fast 20 Jahre.

Meine Stube ist seine Hütte, in der er es schön warm hat und jeden Abend sein Futter auf den Tisch kriegt, hübsch angerichtet auf dem hässlichsten Teller, den ich habe. Er legt keinen Wert auf Ästhetik. Ich bereite ihm sein Essen zu, in 10 Minuten. Auf das Verfallsdatum nehme ich keine Rücksicht, er merkt eh keinen Unterschied und sein Magen hält alles aus. Selbst den größten Klumpen Gammelfleisch.

Für ihn sind Wärme und Essen sehr wichtig, mehr braucht er nicht, um glücklich zu sein. Jedenfalls waren das seine letzten Worte vor paar Jahren.
Hauptsache, warm, trocken und Frauchen, was ihm abends sein Essen auf den Tisch knallt, denn es gibt nur eine Mahlzeit am Tag, mehr ist nicht drin. Kein Geld und keine Lust. Mein Mann soll ja nicht zu sehr verwöhnt werden.
Am liebsten mag er das heiße Pfannenfett, welches ich ihm über sein Fleisch gieße, oder schütte. Er ist ein richtiger Allesfresser, mein Mann, welchen ich auch gerne Hund nenne. Viel anders kann man sein Dasein nicht bezeichnen, denn so verhält er sich. Er wird von einer Ecke in die nächste geschubst, wie ein unliebsamer Straßenköter, der völlig nass vom Regen ist. Umgeben von Tritten und Beschimpfungen. Er sitzt unbeachtet in der Wohnung, wenn sich das Leben um ihn herum tummelt. Alle lachen und er winselt in sich hinein, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Tapfer. Mein Mann schaut anderen beim Leben zu und beobachtet aufmerksam. Aber sein Leben ist vergessen. Er lebt einsam in einer Familie.

Hunde brauchen nicht viel und deren Ansprüche lassen sich mit denen meines Mannes am besten vergleichen. Leider ist es so. Mein Mann interessiert sich nur für Essen, Schlafen und Wärme. Wenn er eine Frau braucht, muss er nur den Fernseher anschalten. Ich bin schon lange nicht mehr seine Frau, sondern nur seine Versorgerin, weil er alleine nicht klarkommt. Selbst die Unterhosen muss ich ihm jeden Morgen raussuchen, denn er weiß nicht, wo sein Kleiderschrank ist. Eigentlich kennt er sich überhaupt nicht zu Hause aus.

Aber etwas ist dennoch anders an ihm, als bei richtigen Hunden: Mit dem Schwanz wedeln tut er nicht mehr. Wenn er spielen will, zeigt er das auf eine andere Art. Er leckt mein Gesicht ab, was ich nicht erwidere. Ich ekel mich davor. Wenn er Annäherungsversuche macht, setze ich ihn vor die Tür oder sperre ihn im Wohnzimmer ein. Früher hat er manchmal versucht, sich auf mich zu stürzen, aber damit war schnell Schluss, weil er dann Futterentzug bekam und über Nacht auf die Straße geschickt wurde. Sollte er doch zusehen, wo er blieb und aus leeren Mülltonnen fressen.

Mein Mann..er ist pflegeleicht, ich muss ihn nur einmal in der Woche in die Wanne schicken, meistens freitags, nach dem Gassi-Gehen (Einkaufen). Ich kaufe ein und er wartet im Auto.
Rasieren muss ich ihn nur selten, denn das gefällt ihm nicht. Er fühlt sich wohl, wenn ihm sein Gesicht zuwächst. Mir ist das ganz recht so, denn ich mag nicht so viel Zeit mit ihm verbringen. Es gibt Wichtigeres.

Vor 20 Jahren war alles noch anders, denn so lange kennen wir uns inzwischen.
Da gab es Gefühle, die mir jetzt schon seit Ewigkeiten fremd sind und an die ich mich schlecht erinnere oder mir nicht vorstellen mag, weil es absurd ist. Gerne würde ich mir frühere Photos anschauen, um das alles nachzuvollziehen, wobei ich jedes Mal feststellen muss, dass ich kein einziges Photo von ihm besitze. Dafür hat er einen ganzen Karton voll mit Bildern von mir.

Mittlerweile weiß ich, warum er schon so lange bei mir wohnt.
Mit der Frage verschwendete ich viele meiner wertvollen Gedanken.. Aber es stimmt, es gab mal eine Zeit, in der ich ihn irgendwie mal kurz geliebt habe und er mich auch. Damals waren wir so überwältigt von unseren übertriebenen Gefühlen, dass wir sofort heirateten, war ja auch so üblich. Betteln konnte er schon immer ganz gut, also ließ ich mich von ihn hinreißen. Die Menschen um mich herum setzten mich zusätzlich mit unter Druck, denn wer nicht gleich heiratete, wurde schief angeguckt. Eigentlich blieb uns gar nichts weiter übrig, als die Sache schnell hinter uns zu bringen. Wir heirateten ohne Gäste und ohne Feier, denn wir sahen das als Zeit- und Geldverschwendung an. Uns reichte die Urkunde, wo drauf stand, dass wir nun offiziell den gleichen Nachnamen haben.

Nun sitze ich hier mit ihm fest und bin enttäuscht, von dem, was ich mir ins Haus geholt habe. All meine Wünsche hat er mir verdorben. Er steht mir im Weg, auch, wenn er sofort geht, wenn ich komme. Wir leben aneinander vorbei auf einer 80 qm² Mietwohnung im tristen Plattenbau, wo die bröckelnde Fassade genau unser Eheleben widerspiegelt.
Die Freude und die Gefühle hielten damals nur kurz an, dann war alles weg und kam nie wieder.

Das einzige Gefühl, welches ich noch habe, ist das Gefühl, mich um ihn kümmern zu müssen, dazu bin ich als Frau schon fast verpflichtet. Ich habe ihn durch unsere Heirat sozusagen adoptiert und fest an mich gebunden. Weggeben kann ich ihn nicht mehr, dazu fehlt mir das Geld. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er ein neues Frauchen findet, was ihn gern hat. Niemand würde ihn haben wollen. Nur ich damals, weil ich gerade meine Tage hatte und völlig durcheinander war, was Gefühle anging.

Irgendwie tut er mir Leid. Deswegen bleibt er jetzt bei mir, ich muss ja nicht viel dafür tun, damit es ihm gut geht und eigentlich kostet er weniger Geld, als ein echter Hund. Das teure Markenfutter kann sich eh keiner leisten und Tierarzt ist auch teuer. Da habe ich es mit meinem Mann schon leichter, denn er hasst Ärzte und beim Essen stellt er keine Ansprüche, oder kann auch mal verzichten.
Nicht mal Streicheleinheiten braucht er, von denen hat er am Anfang ja genug bekommen. Ihm reicht seine Kuscheldecke, unter der er seinen täglichen Mittagsschlaf hält, die gibt ihm Wärme und paar von meinen langen Haaren hängen auch dran, dann hat er auch etwas Nähe von mir.

Aber manchmal gibt es Momente, da brauche ich meinen Mann doch und rufe ihn mit einem Appell herbei, bei Befehlen wird er hellhörig. Daraufhin kommt er sofort und steht fast hechelnd vor mir, denn er macht gerne etwas für mich, weil er dann ein bisschen Aufmerksamkeit von mir bekommt und vielleicht noch ein kleines Leckerli, im Sinne von Zigaretten oder Kaffee. Je mehr Zigaretten ich ihm gebe, umso schneller kann ich ihn durch einen neuen Hund ersetzen, den ich dann vielleicht länger lieben kann. Wenn es meinem Mann schlechter gehen sollte, werde ich ihn ins Tierheim bringen, dort gibt es gute Pfleger, die mehr Ahnung haben und besser mit ihm umgehen, wenn sein Leben langsam ein Ende nimmt. Ich möchte meinem Mann im hohen Alter einfach nicht mehr belasten.
Vielleicht kriegt er dort auch eine schöne Couch, denn unsere hat er über die Jahre schon ganz schön derb zugerichtet mit seinem Übergewicht und seinem Geklecker. Unsere Couch ist genauso alt wie er.
Und vernünftig essen, ohne, dass etwas daneben geht, konnte er noch nie.

Letztendlich gibt es nur eine Sache, für die ich meinen Mann einmal im Leben brauchte.. Kindermachen. Ohne ihn hätte das nicht geklappt. Damals wollte mein Mann viele Kinder machen, aber ich wollte nur eins. Da war er traurig.
Danach ließ ich meinen Mann kastrieren, damit er nicht mehr auf dumme Gedanken kommt und mich nicht ständig anspringt. Jetzt ist er lieb, so ganz ohne Hormone. Das gefällt mir und alle beneiden mich um mein harmonisches Leben mit meinem Mann, der zugleich mein Hund ist. Der alles macht, was ich ihm sage und der an Ort und Stelle ist, wenn ich ihn brauche. Jemand, der lebt, ohne zu geben (Ausnahme: Kind) und nicht viel nimmt, um zufrieden zu sein. Ich kann machen was ich will und er nimmt es so hin. Widersprechen ausgeschlossen, weil er gut erzogen ist. Dafür ist mein Mann aber ein guter Zuhörer. Wenn ich abends Besuch kriege, steht er an der Schlafzimmertür und lauscht. Am nächsten Morgen stellt er sich ans Fenster, springt raus und hängt sich dem fremden Besucher an die Fersen.
Das passierte einige Male. Bis die Polizei kam und ihn abführte. Ich fragte nicht, wohin.
Auf Wiedersehen, treuer Weggefährte.