Das alte Leben weggeben

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Dass ich noch einmal umziehe, hätte ich nicht gedacht. Obwohl ich immer von einer anderen und tolleren Wohnung träumte, hatte ich mich dann doch mit 47 qm abgefunden. Ich richtete alles so ein, bis sich das Wohnungsflair gut genug anfühlte. Aber dennoch war es nie wirklich perfekt. Weil es die falsche Wohnung war, um sich auszuleben und um ‚richtig‘ zu leben. Trotzdem war ich lange genug der Meinung, dass ich darin irgendwann, wenn ich sehr alt bin, mal sterben würde. Und niemand mich findet. Eine Horrorvorstellung, die leider zur Realität werden kann, wenn man ein anonymes Leben führt und gerne seine Ruhe hat.

In 5 Wochen ziehe ich um. Weg aus der Gesundheitsbranche, weg aus Rostock und rein ins Urlaubsparadies Usedom in meine Traumwohnung, die ich tatsächlich mit einer Menge Glück gefunden habe. Diesmal war es einfaches Glück: Kurze Suche, schnelle Zusage – und zwar am selben Tag der Besichtigung. Das muss man auf Usedom erst einmal schaffen. Es ist echt toll, seinen Umzug über ein halbes Jahr verteilt zu planen. Gerade, wenn man Umzüge hasst. Viel Organisation, viel Chaos… da den Überblick zu behalten macht keinen Spaß. Ich bin jedes Mal froh, wenn ich einen Notizzettel löschen kann oder ein komplizierter Anruf geklärt ist. Diesmal habe ich jedoch dazugelernt, dass Telefonieren doch ganz sinnvoll sein kann und man sich Umwege erspart. Manche Angelegenheiten lassen sich nur per Anruf klären und es ist gar nicht so schlimm, wie ich immer dachte. Trotzdem versuche ich es zuerst lieber mit langen E-Mails.

Heute bin ich ziemlich müde und kaputt. Mein Kopf fühlt sich voll an und mir ist extrem warm, dazu noch eine handvoll Kopfschmerzen. Krankgeschrieben bin ich auch, aber nicht deswegen. Trotz alledem schreibe ich diesen Beitrag. Ich möchte gerne bestimmte Momente festhalten, die mich innerlich ziemlich bewegen und nachdenklich machen, da man in solch eine Situation eher selten kommt. Außerdem möchte ich wieder mehr schreiben. In den letzten Monaten war mein Leben beruflich zu zerwühlt, um zum Schreiben noch genug Zeit und Nerven zu haben. Ich möchte gerne schreiben, aber nicht unter Stress. Ich denke, die Zukunft sieht da besser aus.

Gerade bin ich dabei, mein altes Leben in fremde Hände wegzugeben. Einige Möbel kann ich nicht in meine neue Wohnung mitnehmen, da sie entweder nicht passen oder meinen Geschmack nicht mehr treffen (manchmal ist es doof, wenn man anspruchsvoll ist). Dennoch sind es gute Möbel, über die man sich vor paar Jahren mal den Kopf zerbrochen hat. Jedes Möbelstück war gut überlegt und war mit vielen Gedanken verbunden. Ich habe ewig gebraucht, den ‚perfekten‘ TV-Schrank zu finden und die richtige Küche. Nach passenden Möbeln zu suchen und sich dann zu entscheiden, kann sehr nervig sein. Ich mag es, mich neu einzurichten, aber stressen tut es mich genauso. Zu viel Auswahl quält mich oft. Ich schaue mir gerne Möbel an und mag es, mich inspirieren zu lassen, aber ich kann es nicht genießen. Entspannen kann ich mich dabei nicht und teilweise ist es schwierig, dabei positive Gefühle zu haben, wenn man weiß, dass die Sachen noch geliefert und aufgebaut werden müssen. Dazu kommt noch Preis und ein kleiner Zweifel.

Gestern wurde mein gut ausgewählter TV-Schrank abgeholt und heute meine Küche samt Roller-Couch-Tisch. Einfach weg. Weg vom langjährigen Platz, weg aus meinem Leben. Irgendwie fühlt es sich komisch an. Vor kurzem war meine Einrichtung noch vollständig, dekoriert und genutzt…alles hatte seinen Platz, der dafür wie zugeschnitten war… und jetzt wohne ich in einer Wohnung mit fehlender Vergangenheit. Meine Vergangenheit wurde mir freiwillig genommen. Jetzt klafft in meiner Küche ein Loch, dort, wo der Büffetschrank stand und in der Wohnstube, in der nun Tisch, Anbauwand und TV-Schrank fehlen. Alles weg. Und das kostenlos. Weil die Möbel für den Sperrmüll zu schade waren und die Leute im Internet nicht wirklich Lust darauf haben, gebrauchte Möbel zu kaufen, die sie auch noch selber abholen müssen.

Ich habe kein Problem damit, Sachen zu verschenken. Mir gefällt das besser, als wenn ich sie wegschmeißen würde. Das wäre Verschwendung, wenn der Zustand noch fast wie neu ist. Ich freue mich lieber daran, wenn Leute Freude an den Dingen haben, die ich verschenke und das Verschenkte dadurch ein neues Leben bekommt. In einem anderen Haushalt, mit anderen Menschen.

Im Riesenrad

Irish Greetings 

Ein Stück Irland zum Genießen.

Momente

….und aktuelle Favoriten, die mein Leben verschönern 😊

Genmanipulierte Riesen-Radieschen?

Eigentlich achte ich sehr darauf, was ich esse. Bio, Feinkost, Gourmet, vegan, vegetarisch – all das sind appetitliche Lebensmittelbezeichnungen, nach denen ich bewusst Ausschau halte und mich darüber freue. Preis egal, Hauptsache die Qualität stimmt und es ist gesund. Schmecken tut es mir sowieso, da bin ich völlig unkompliziert. Bisher gab es nichts, was ich eklig fand. Selbst vegetarische Bratwürste schmecken ‚echt‘, wie ich letzte Woche herausgestellt habe. Von daher alles super und ich vermisse nichts. Bestimmte Dinge habe ich eh schon immer selten oder fast nie gegessen, z.B. Eier. Deswegen fehlen mir viele Sachen auch überhaupt nicht. Und Milch trinke ich auch seit fünf Jahren nicht mehr. 

Gestern lief ich allerdings an diesen riesigen Radieschen vorbei und ich konnte mir schon denken, warum die so groß geworden sind. Gentechnik, die fast überall drin ist und wenn nicht das, dann andere Schadstoffe. Aber da ich nun auch kein Extremmensch bin und in Sachen Essen auch mal eine Ausnahme mache (außer Fleisch), habe ich diese Radieschen in den Korb gepackt. Weil ich Radieschen liebe.

Und sie schmecken echt lecker. Ich würde nicht sagen, dass ich mich nun deswegen in einem angespannten Ernährungsdilemma befinde. Ich bin kein Hardcore-Veganer, und kein freakiger Gesundheitsextremist, der nur Bio frisst. Manchmal will ich auch Pizza essen – und tue es.

Ich lebe zu 85% gesund und zu 15% ungesund. An Ostern habe ich sogar normale Vollmilchschokolade gegessen. Aber danach nicht mehr. Weil es mir besser geht, wenn ich das auf Dauer nicht tue. Ich fühle mich fitter, wenn ich auf ‚Giftware‘ verzichte, denn die meisten Lebensmittel zerstören einen mehr, als man denkt.

Shpock und Wunschdenken

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An einem Samstagabend war ich ganz euphorisch, nachdem ich mir die App herunterlud. Ich wollte unbedingt mein Handy verkaufen – ohne Ebay und ohne Ankaufportal. Sondern ganz alleine und am besten schnell. Shpock schien dafür perfekt zu sein, schnell und easy.
Also machte ich ein paar Fotos vom Handy und beschrieb kurz alle Details.

Ich war mir sicher, dass ich das Handy bald verkaufte. Vielleicht sogar innerhalb einer Woche, da es wie neu war und perfekt funktionierte. Es war wirklich perfekt neuwertig mit Originalverpackung, ungebrauchtem Zubehör und Schutzhüllen. Ein Traum für 400€.
Was sollte da schiefgehen?
Nach 5 Minuten war alles fertig, der Verkauf konnte losgehen und ich war zufrieden.

Natürlich trudelten wenig später schon die ersten Fragen ein, ob es auch billiger geht und der erste Deal begrüßte mich: 300€
Ich lehnte ab. Für so ein neuwertiges Handy waren 300€ ein Witz.

So ging es an dem Abend weiter.
Immer wieder dieselben Fragen, ob das Handy noch zu haben ist oder ob man preislich noch etwas machen kann. Dazwischen vereinzelt Tauschangebote, ob ich das Handy gegen eine Playstation tausche oder ob ich nicht vielleicht ein Samsung Handy dafür haben möchte…

Am nächsten Abend machte mir ein nettes Mädel Hoffnungen. Sie fand die 400€ okay, und fragte, ob sie es auch für 380€ haben könne. Sie würde es dann am nächsten Tag gleich abholen. Sie machte ein Angebot – 380€ – und ich willigte ein. Danach musste sie nur noch einwilligen und der Kauf stand. Aber sie willigte nicht ein und meldete sich nicht mehr.

Dann kam noch jemand mit einem Deal für 380€. Ich willigte ein und er brach alles wieder ab.
Deal abgebrochen. Welch ein blöder Satz!
Warum macht denn jemand erst ein Angebot, wenn er davon doch nicht überzeugt ist? Diese Logik verstand ich nicht.

Mehr als das passierte bei Shpock nicht. Angebote für 300€ und diverse Abbrüche.
Lauter Deals, die nicht stattfanden. Im Handel würde so ein Handy viel mehr kosten. Wenn man etwas wirklich will, kauft man es. Meist ohne viel zu überlegen.
Ich habe im Sommer mal ein T-Shirt für 120€ gekauft, weil ich es unbedingt haben wollte und das Shirt fast ausverkauft war. In dem Moment gab mein Verstand keine Warnsignale, weil der Wunsch einfach stärker war, als die Vernunft. Ich kaufte es und bereue es bis heute nicht, obwohl ich es nur selten trage.

Ich wurde mein Handy nicht los, da ich keine Lust mehr hatte, mit dummen Leuten zu verhandeln. Entweder ja oder nein. Niemand sagte JA, sondern bekam Schiss.
Am liebsten würden die Käufer bei Shpock alles geschenkt kriegen und nach Hause gebracht bekommen. So mein Eindruck. Ich verschenke mein iPhone und bringe es zu dir nach Hause. Ja, das wollen sie.

Aber ich wollte nicht nur mein Handy verkaufen, sondern auch Bücher, die ich nicht brauchte.
Ich verkaufte jedes Buch für 2€.
Eine Frau interessierte sich für ein Buch. Sie wollte wissen, wie teuer es mit Versandkosten wäre.
4,20€
Danach hörte ich nichts mehr von ihr.

Dann gab es noch jemanden, der auch an einem Buch interessiert war und er machte gleich einen Deal.
Er fragte anschließend nach den Versandkosten und alles war gut.
Er schrieb, er würde mir die 5,80€ sofort überweisen.
Smile.
Er tat es nicht.

Nun frage ich mich: Was soll der Mist?
Haben die Leute alle kein Geld, dass sie nicht einmal 5€ bezahlen können? Was ist los mit denen?
Woanders sind Bücher viel teurer.

Fazit: Das Portal eignet sich für Kriminelle und für Leute, die das Talent haben, so lange zu feilschen, bis es kostenlos ist.

2017

Ich wünsche euch ein frohes neues Jahr, obwohl ich diese ganzen Sprüche selber nicht mehr hören kann und vor allem: nicht hören will. Weil…es nervt mich langsam. Die letzte Woche eines Jahres ist immer der Horror für mich. Plötzlich melden sich Leute, von denen man ewig nichts gehört hat und wünschen einen alles Gute. Was soll das? Diese gespielte Freundlichkeit..furchtbar. Und andererseits geht es im Dezember immer nur ums Kaufen. Kaufen, kaufen, kaufen,…kochen. Am Ende wundern sich die Leute, warum sie so fett geworden sind. Und prompt taucht im TV Werbung von Weight Watchers auf…

Es ist doch immer der gleiche Wahnsinn 🙄 Zum Glück mache ich da nicht mit.

Meeting Heidelberg

Der Anlass für meine Reise war ein Job. Aber ich erlebte noch viel mehr.

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1. Tag/Donnerstag: Anreise & Stadtrundgang

Frühstück:
– 1 Vanille-Pudding mit Sahne
– 3 kleine Schokoriegel
Vormittag/Nachmittags:
– 1 Tüte Gummibärchen
Abends:
1 Veggie-Sandwich mit Chili-Sauce
Tonic

9 Stunden in einem Zug mit reserviertem Sitzplatz am Fenster – das konnte nur gemütlich werden! Zumindest blieb ich verschont von Verspätungen, kurzen Umsteigezeiten oder Sitzplatzgedrängel.
Der Platz neben mir blieb frei. Ich war gespannt, wie lange das so bleiben würde.
Nach ungefähr einer Stunde bekam ich einen Sitznachbarn – einen älteren Herrn Ende 60. Er war höflich und fragte sogar, ob der Platz noch frei wäre. Dann legte er sein Gepäck auf die Ablage über mir ab und verhielt sich still. Seitdem er da war, hatte ich den Geruch von Alkohol in der Nase. Auf seinen Füßen stand eine Tüte. Aber ich konnte den Inhalt nicht erkennen.

Bis Hamburg fuhr ich rückwärts und irgendwie gewöhnte ich mich daran. Mit der Hoffnung, dass sich die Fahrtrichtung später noch änderte.
Als der Zug in Hamburg hielt und sich der Mann neben mir kurz abmeldete, schaffte ich es endlich, die Tüte mit den Süßigkeiten aufzumachen. So konnte ich wenigstens niemanden mit diesem Tütengeraschel belästigen und in Ruhe essen, so lange der Mann weg war. Mein Papa hasste es früher, wenn ich aus ‚knisternden Tüten‘ aß. Ich durfte es nicht und mache es heute immer noch heimlich. Er sagte: „Ich will nicht, dass du dick, hässlich und dumm wirst.“
Die Macht der Erziehung. Mein Papa war Kapitän und Lehrer, da gab es keine Widerrede. Ich höre seine Worte noch heute jeden Tag in mir.
Als der Mann wiederkam, versteckte ich die Tüte schnell in der Handtasche. Ich hatte keine Ahnung, von wo er kam. Vielleicht war er draußen rauchen oder auf der Toilette.
Als der Zug nach einer halben Stunde wieder seine Fahrt fortsetzte, ging es zum Glück in Fahrtrichtung weiter. Das entspannte mich sehr.

Dann kam die Schaffnerin. Als ich ihr mein Handy hinhielt und sie das Ticket mit einem Blitzgerät abscannte, staunte der alte Mann.
Er kommentierte: „Mit dieser neuen Technik würde ich nie zurecht kommen und das will ich auch gar nicht. Diese komischen Codes sind nichts für mich. Das ist alles kompliziert. Da sind die normalen Fahrkarten immer noch am besten. Aber Sie sind ja noch sehr jung. Sie verstehen das sicher alles, oder?“
„Klar, sonst hätte ich nicht so ein Ticket“, antwortete ich. Aber auch für mich war es eine Premiere – mein erstes Handyticket und ich war mir nicht sicher, ob das wirklich problemlos funktionierte.
„Ja, Sie sind noch sehr jung.“
Gehörte dieser Satz schon in die Kategorie der semi-charmanten Anzüglichkeiten? Mir kam es ein bisschen so vor. Immerhin hatte der Mann inzwischen eine angefangene Bierdose in der Hand. Im Alter verträgt man nicht mehr so viel Alkohol und übertritt Grenzen. Besonders in Verbindung mit beginnendem Alzheimer. Da kommt es leicht zur Selbstüberschätzung und man fühlt sich plötzlich viel jünger, wenn die Vergangenheit wieder zur Gegenwart wird.
Ich sagte nur: „Ja, bin ich“, und drehte mich zum Fenster, um durch meine Körpersprache Desinteresse zu verkünden.
„Okay, dann hören Sie mal weiter Musik. Ich will Sie nicht weiter belästigen.“
Oh, er verstand mich und ich musste lächeln.
„Sie hören doch Musik, oder“, hakte er noch einmal neugierig nach.
„Ja.“
Danach sagte er kein Wort mehr und nippte an seiner Büchse Alkohol.
Fand ich nicht gerade prickelnd. Musste das im Zug sein?
In Osnabrück stieg er aus. Mit den Worten: „Ich wünsche Ihnen noch eine schöne Reise und viel Spaß!“
Das war freundlich von ihm und mein abweisendes Verhalten tat mir in dem Moment etwas leid.
„Danke! Gleichfalls“, erwiderte ich. Dann war er weg.

Ein wenig später kam der nächste Mann, der neben mir sitzen wollte. Er fragte nicht und sagte kein Wort. Er war dick und nahm den ganzen Sitz ein. Außerdem hatte er ein Buch, worin er mit einem Kugelschreiber einzelne Sätze unterstrich. Ich konnte nicht entziffern, was das für ein Buch war. Aber der Mann blieb nicht lange und stieg nach zwei Stationen wieder aus.

Mein Platz neben mir blieb nie lange frei. Aber wenn er frei war, nutzte ich die Zeit, um etwas zu essen. Ich brauchte Zucker, da ich langsam müde wurde. In der vorigen Nacht schlief ich kaum und der Mangel machte sich nun allmählich bemerkbar. Dennoch wollte ich im Zug nicht schlafen, um nichts zu verpassen und zählte die Stunden bis zur Ankunft. Es waren viele Stunden, die schnell vergingen. Wahrscheinlich, weil ich mich nie langweilte.

Dann bekam ich ausnahmsweise Gesellschaft von einer Frau. Auch diese erkundigte sich erst einmal nach der Verfügbarkeit des Platzes. Ich nickte ihr zu. Sie sah aus, als würde sie bei RTL arbeiten und sie stieg passend in Köln wieder aus.

Im Ruhrpott war viel los, der Zug war ständig voll und die Gäste wechselten im Stationentakt. Ich konnte mich also darauf gefasst machen, dass ich sensorisch bald wieder einen neuen Nachbarn kennenlernte. Selbstverständlich kam ein Mann. Ohne zu fragen, ohne Worte und sehr neutral. Ich hatte nichts an ihm auszusetzen und hatte auch keine Lust mehr, ihn in irgendeine Schublade zu stecken. Meine Beobachtungen endeten und ich achtete umso mehr auf die Landschaft, die sich inzwischen stark veränderte – zum Flachland zum Bergland. Der Zug fuhr nun direkt am Neckar entlang, mit all seinen verträumten bunten Häusern mit vielerlei Schnörkeln. Es war wie eine andere Welt. Wie ein kleines Märchen. Ich war schon mehrmals in dieser Gegend und jedes Mal machte diese Idylle mich glücklich.
Zwischendurch kam der Schaffner durch die Reihen. Jedes Mal fragte er im Pfälzer Dialekt: „Servus! Ist noch irgendwer zugestiegen?“ Er klang schon beinahe genervt, als die Gäste sich desinteressiert verhielten, sich absichtlich in ihre Zeitungen vertieften und sich niemand angesprochen fühlte.

Die restlichen 1.5 Stunden Fahrt verbrachte ich alleine mit meiner Handtasche neben mir, da inzwischen genug andere Plätze frei waren. Es wurde deutlich ruhiger im Zug und es gab keinen Stress mehr an den Bahnhöfen. Ich aß ungestört die restlichen Gummibärchen. Zwischendurch checkte ich mit dem Handy die Lage meines Hotels, das sich direkt in der Innenstadt befand. Wäre also kein Problem, es zu finden. Ich konnte es kaum erwarten, endlich dort zu sein. Meine Beine wurden schon lahm. Flüssigkeits- und Bewegungsmangel sowie die Einnahme der Pille zählten zu den perfekten Thrombose-Risikofaktoren. Ich könnte bald Patient werden, die Heidelberger Uni-Klinik ist bestimmt aufregend!

Als ich am Abend in Heidelberg ankam, war der Bahnhof überfüllt mit Menschen. Es irritierte mich. So viele Menschen. Zu viele. Erster Eindruck: Heidelberg ist eine sehr internationale Stadt. Zweiter Eindruck: Viel Verkehr und das Hochhaus mit dem Namen ‚Print Media Academy‘ verlieh der Stadt einen außergewöhnlich wichtigen Touch.
Während ich an den zahlreichen Ampeln wartete, stellte ich fest, dass Mercedes, Audi und BMW die Hauptvertreter der Verkehrsmittel waren. Zwischendurch schlich sich auch mal ein Ferrari ein.

Ziemlich erschöpft erreichte ich bald das Hotel. Eigentlich war ich völlig fertig. Beim Einchecken wurde ich gefragt, ob ich jeden Tag Frühstück essen will und in welcher Form ich gerne bezahlen möchte. Dabei war ich mir sicher, dass ich diese Angaben schon bei der Buchung machte.
Also sagte ich: „Ich hab mit Frühstück und mit Kreditkarte gebucht.“
Aber irgendwie waren die Daten wohl nicht vollständig angekommen. Dann kam mir plötzlich der Gedanke auf, dass die Karte vielleicht nicht mehr richtig funktioniert. Oder dass alles am Ende doppelt abgebucht wird. Ich wartete erst einmal ab. Dann steckte die Frau an der Rezeption meine Karte ins Gerät und als ich sie wiederbekam fragte ich: „Hat alles geklappt? Also mit der Karte?“ Die Frau schaute mich etwas verwundert an und sagte dann: „Alles in Ordnung. Hier ist der Beleg.“
Dann gab sie mir den Schlüssel und ich huschte eilig die Treppen hoch. Die Tür bekam ich erst beim vierten Versuch auf. Ein Glück, dass mich in solchen Momenten nie jemand beobachtete.

Das Zimmer in der 2. Etage war perfekt. Rosa Wände, lila Vorhänge, Nachttischlampen mit Schirmen in Perlmutt und ein Boxspringbett mit einer winzigen Tüte Gummibärchen auf der Bettdecke. Und dass, obwohl ich noch zwei Tüten in der Tasche hatte. Eine Tüte reichte schon, um nicht mehr davon essen zu wollen. Die Lust auf Süßigkeiten verschwand schnell wieder.
Der Schreibtisch war super, denn den brauchte ich zum Arbeiten. Der große Flachbildfernseher hing direkt darüber. Ich musste sofort an einen Freund denken und sendete ihm ein Bild vom TV: ‚Den Fernseher würdest du lieben, du Freak.‘ Er schrieb gleich zurück: ‚Oh jaaaaa…….‘ Dann schickte er mir Bilder von seinem gestrigen Filmabend. Im Vordergrund standen einige Flaschen Alkohol, Nüsse und Chips.
‚Das erinnert mich an deine Nussgeschichte‘, antwortete ich. Danach rief er mich an und wir lachten uns über diese Geschichte tot. Heidelberg wurde kurz zur Nebensache. Am Ende des Gesprächs gab er mir jedoch die Aufgabe, genug Fotos zu machen.
Leider hatte das Zimmer keine Badewanne. Leider. Aber so konnte ich mich abends besser auf die Arbeit konzentrieren. Obwohl Baden ein schöner Ausklang gewesen wäre.

Nachdem ich meine Sachen ausgepackt und mich genug ausgeruht hatte, machte ich meinen ersten Rundgang durch die Stadt, um mir eine Gesamtorientierung zu verschaffen, damit ich wusste, was mich in den nächsten Tagen erwartete und wo ich überall hinmusste.
Zuerst schaute ich mich in der Weststadt um und danach in der Altstadt, wo viel mehr los war. Abends wirkte die Stadt leicht orientalisch und ich bildete mir ein, ständig den Geruch von Gewürzen in der Nase zu haben. Ein Stück Indien und in einer anderen Ecke wieder ein Hauch Asien. Mein Blick war mal wieder wie erstarrt, als ich die ganzen Menschen sah. Die Restaurants waren auch alle voll.

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Die Geschäftsstraße (Hauptstraße) war ewig lang. Mir kam sie endlos vor. Sie ist tatsächlich die längste Shoppingmeile Deutschlands mit einer Länge von über 2 km. Die Läden machten mich fertig, es waren zu viele und sorgten bei mir für eine alarmierende Reizüberflutung, auf die ich lieber verzichten sollte. Mir wurde etwas schwindlig. Aber das lag wahrscheinlich eher daran, dass ich nach der langen Anreise etwas essen musste.

Ich hatte Hunger und konnte das Gefühl nicht länger ignorieren. Aber ich wollte in kein Restaurant. Ich wollte etwas Einfaches, aber auch kein Fast Food. Letztendlich stand ich wieder vor dem üblichen Desaster: Ich wusste nicht, was ich will – wie immer, wenn ich richtig Hunger habe. Bevor ich mit Nichts wieder zurück ins Hotel ging, holte ich mir ein warmes Veggie-Vollkorn-Sandwich.
Danach ging ich bis zum Ende der Hauptstraße und kehrte um. Die Leute waren teilweise sehr komisch und beängstigend, deswegen wollte ich den Abend auf der Straße nicht allzu lange hinauszögern, da ich alleine unterwegs war und somit genug Angriffsfläche bot.

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Gegen 20 Uhr war ich zurück im Hotel, aß mein Sandwich und es machte wahnsinnig satt. Ich fühlte mich, als hätte ich einen Stein gegessen. Mit diesem Stein im Bauch ging ich duschen. Eine Viertelstunde goss ich mir viel zu heißes Wasser über den Körper und fand es entspannend. Mein gestörtes Schmerzempfinden war daran Schuld, dass ich es toll fand.
Nach dem Duschen war das halbe Bad überschwemmt und voller Dampf. Die weißen Handtücher wurden nach dem Abtrocknen als Bodenwischer und Teppich zweckentfremdet.

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(22 – 1 Uhr Meeting)

Nach dem Meeting endete der lange Tag und ich schlief sofort ein. Ohne meiner besten Freundin weitere Infos zu geben.

2. Tag/Freitag: Altstadt, Schloss & Bergbahn
Frühstück:
1 Brötchen mit Käse und Nutella
Vanille Quark
Banane
Mini-Quarkschnecke
Kaffee, Multi-Saft
Nachmittags:
Kaffee + Vanille-Eis + Sahne
Abends:
1 Kurfürstenkugel
Tonic

Am 2. Tag wurde ich gegen 4 Uhr wach, so, wie es neuerdings üblich ist. Danach folgte ein Halbschlaf: Ich träumte die Gedanken, die gerade in meinem Kopf aufblitzten. Schön, wenn man seine Träume so beeinflussen kann.
Gegen 7:30 Uhr klingelte mein Wecker und holte mich aus einem erotischen Wachtraum, in dem es um einen Mann ging. Ich atmete erst einmal tief durch, bevor ich aufstand und zum Frühstück ging.
Auf das Buffet war ich gespannt, da das Frühstück hier den Part der Hauptmahlzeit übernahm.
Das Bad war immer noch nass vom letzten Abend. Aber ich schaffte es irgendwie, nicht darin auszurutschen und ich schaffte es auch nicht, über diese kleine Stufe zu stolpern, die sich genau in der Mitte zwischen Klo und Dusche befand. Ich stieß mir nur kurz den Zeh daran und merkte es mir für die nächsten Tage.

Dann ging ich zum Frühstück. Meine Schuhe machten ungewöhnliche Geräusche, als ich die Treppen hinunterging. Die Sohlen waren mit Luft gefüllt und ließen bei jeder Stufe Dampf ab. Nach jeder Stufe ertönte ein leichtes luftiges Zischen.
Ich begrüßte die Frau an der Rezeption so, als wäre ich kein Morgenmuffel und bog zum Frühstücksraum ab, in dem nur vier Leute saßen. Alles Männer mit Notebooks und Handys. So so…
Ich hatte mein Handy nicht dabei. Grund: Achtsamkeitstraining.
Das Buffet war in Ordnung. Es gab Dinge, die ich sonst auch esse. Aber es gab auch Dinge, die sie nicht hatten. Ich war trotzdem zufrieden, da essen ja nicht so wichtig ist.

Nach dem Frühstück blieb ich nicht mehr lange im Hotel, sondern ging durch die Stadt. Es waren weniger Leute unterwegs, als am vorigen Abend. Viele Läden machten erst um 10 Uhr auf. Ich lief flüchtig die Straße entlang und schaute, welche Läden mich interessierten. Es waren nicht viele, da es die meisten davon auch in meiner Stadt gab und ich sowieso Königin im Internet-Shopping bin, weil ich zum ‚richtigen‘ Shoppen einfach zu wenig Zeit habe.

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In Heidelberg sah man viele Asiaten, die ständig Selfies von sich machten und denen nichts zu peinlich war. Ich konnte es kaum fassen, wie verrückt die waren, mit ihren Metallstäben in der Hand und dem Handy dran. Immer wieder beobachtete ich diese Grüppchen, die kichernd sich und alles knipsten. Einfach so. Und jedes Mal zog ich die Augenbrauen hoch, wenn direkt vor mir schon wieder Selfies gemacht wurden. Verrückt. Was war bloß los mit diesen Leuten? Ich würde schlechte Laune kriegen, wenn ich dauernd Bilder von mir machen würde. Vor allem: Was macht man mit diesen Bildern, die alle gleich aussehen? Für ein Fotoalbum ziemlich langweilig.
Okay, ich versuchte, mich nicht zu sehr auf diese Leute zu fixieren, obwohl mich deren Verhalten teilweise sehr schockierte.

Dann fand ich endlich mal jemanden, den ich ansprechen konnte. Er stand neben seinem Mini-Cabriolet-Bus auf dem Karlsplatz und ich hatte Interesse an einer Sightseeingtour.
„Hey! Kann ich hier noch mitfahren?“, fragte ich etwas aufgedreht.
„Erst in einer Stunde wieder. Die Fahrten sind stündlich!“
„Okay, dann bis nachher.“

Um 11 Uhr also. Eine Stunde Zeit zum Shoppen. Die Souvenirläden waren überraschend unspektakulär. Nur teure Kuckucksuhren und verzierte Kannen aus Zinn für ältere Generationen. Erinnerte mich ein wenig an den Zinnmann aus ‚Der Zauberer von Oz‘.
Die Läden bestanden größtenteils aus Kitsch. Dinge, die man sich anschaut, ohne einen Zweck darin zu finden. Die Japaner fanden das bestimmt alles toll und aufregend. Deswegen gab es den Laden ‚Unicorn‘. Zauberhaft im ersten Moment. Aber nach Betreten des Ladens stellte sich heraus, dass dort alles in chinesischer Schrift gekennzeichnet war. Ein Paradies für die Selfie-Paparazzi.
Es gab so viele Asiaten, dass (ungefähr) zwei von ihnen beschlossen, ein eigenes Geschäft zu gründen, in dem genau die selben Dinge verkauft wurden, wie in den deutschen Läden, die sich fast genau daneben befanden. Wow! Und anscheinend hatten sie eine gute Idee, denn der Laden zog genug Besucher an. Ich hingegen war nach einer Runde schnell wieder draußen, als ich mitbekam, dass sich darin eine andere Welt ohne Buchstaben befand. Eigentlich fühlte ich mich ein bisschen unwillkommen.

Ich hatte die Nase voll. Kein Shoppen mehr!
Mittlerweile füllte sich die Stadt immer mehr mit Menschen, die wahrscheinlich besser wussten, wonach sie suchen und was sie brauchen. Mir fehlte nichts, deswegen hatte ich keine Ahnung, was ich brauche. Das einzige, was ich brauche, sind neue Erfahrungen, die sind am wertvollsten. Den Rest der Zeit vertrieb ich mir, in dem ich hin und her lief.
Kurz vor elf war ich beim Cabriolet-Sightseeing-Bus, der schon fast komplett voll war mit alten Leuten. Okay. Wenn ich Glück hatte, war noch ein Platz frei.
„Ist noch was frei?“, fragte ich den Fahrer.
„Bist du alleine?“
„Ja.“
„Dann ist noch was frei.“
„Wie teuer ist das?“
„9 Euro.“
Ich gab ihm das Geld, suchte mir einen Platz und guckte mir die anderen Fahrgäste an, die alle ein halbes Jahrhundert älter waren und mit den Kopfhörern am Sitz nicht klarkamen.
Ich entdeckte nun auch durch Zufall, dass unten ein Aufsteller (mit Preisen, Route, Abfahrtzeiten in rot) stand. Wie blind ich manchmal bin.
Bevor der Bus losfuhr, erklärte der Fahrer, wie man die Kopfhörer einstellte: 2 + (++++ je nachdem, wie taub man schon war). Mein Kopfhörer hatte ab und zu einen Wackelkontakt, wenn der Bus eine Kurve fuhr und es wurde nicht besser, wenn ich daran herumfummelte.
Die Sightseeing-Tour war toll und half mir dabei, mich auch mal wie ein Tourist zu fühlen, obwohl ich nicht zum Urlaub dort war. Der Bus fuhr durch alle Stadtteile – bei ca. 150 000 Einwohnern auch kein Problem.
Ich war als Kind schon einmal in Heidelberg, habe aber nur die Erinnerung, dass die Rutsche so heiß war, dass ich schrie und bei der Hitze ständig extremen Durst hatte. Ansonsten fehlen alle Erinnerungen, weil ich noch zu klein war.
Die Bustour ging knapp 45 Minuten. Da es sonnig und warm war, wurde auch niemand nass.

Nach der Bustour war Leerlauf.
Vor der Heiliggeistkirche standen auf einmal viele schwarze Autos. BMW, Mercedes, Audi.
Hinweis auf eine wichtige Audienz. Aber ich sah niemanden, bis auf die Leute, die alle um mich herum standen. Als ob irgendetwas gewesen wäre.
Hm.
Ich ging in die Kirche, um zu gucken, was da los war. Vielleicht fand ich dort die Leute, die zu den Autos gehörten. Und ja, sie hielten sich tatsächlich in der Kirche auf. Auf jeden Fall ging es um keine Beerdigung und um keine Hochzeit, sondern um andere Dinge.
Später, als all der Trubel weg war, ging ich noch einmal in die Kirche. Für ein paar stille Minuten.

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Danach guckte ich mich in der Stadt weiter um. Nachdem ich in zwei Läden doch noch etwas Schönes fand, ging ich zurück ins Hotel, um mich auszuruhen und um die Sachen wegzubringen, die ich nicht länger mit mir herumschleppen wollte. Ich hatte Angst, dass die Papiertüte durch die Schwere des Inhalts (2 Flaschen Alkohol) riss. Im Hotel legte ich mich hin und entspannte mich eine Stunde.

Zurück in der Stadt holte ich mir beim Bäcker (Cafe Gundel) 2 Kurfürstenkugeln, um mir rechtzeitig mein Abendbrot zu organisieren. Vor mir stand jemand, der wissen wollte, was das für runde Dinger sind und was da drin ist. Ich konnte seinen Dialekt kaum verstehen. Wisch-Wasch-Deutsch. Die Kugeln füllten die Hälfte meiner Handtasche aus und ich hoffte, dass sie nicht allzu sehr kaputt gingen, nach dem Herumgetrage in der Wärme.

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Was ich eigentlich noch machen wollte: Ich wollte zu Fuß zum Schloss hochgehen.
Aber die Bergbahn kam dazwischen, dessen Haltestelle ich zufällig groß ausgeschildert mitten in der Altstadt fand. Okay, dann mache ich das zuerst, dachte ich. Zum Schloss konnte ich später immer noch gehen. Oder morgen.
Die Warteschlange vorm Ticketschalter löste sich schnell, es war nur eine Familie mit Kindern.
Als ich dran war, bekam ich ein Kombi-Ticket: Hin- & Rückfahrt zum Königstuhl + Eintritt für das Schloss. Alles 12 Euro. Wirkte nicht nach Touristen-Abzocke.
Die Bergbahn kam nach wenigen Minuten. Ich setzte mich in einen mittleren Wagon an den Rand und wagte es einige Male, einen Blick nach unten zu werfen. Es sah komisch aus, weil die Bahn ziemlich schräg nach oben fuhr (ca. 40 % Steigung) und nur an Seilen, die sich unter den Schienen befanden, ‚hochgezogen‘ wurde. So verstand ich es jedenfalls. Über der Bahn waren keine Kabel und Masten zu sehen.
Die Bahn hielt am Schloss und ich stieg aus. Es war wahnsinnig heiß und mir wurde komisch. Kreislaufprobleme. Ich habe leider immer noch nicht gelernt, IMMER Wasser und Traubenzucker dabei zu haben. Oder mir zwischendurch einfach mal etwas zu kaufen.
Überall waren Menschen und eine Menge Asiaten, die auch hier wieder bei jeder Gelegenheit ihr typisches Selfie-Programm abzogen. Aber okay, ich gewöhnte mich langsam daran. Sie waren einfach so und ich akzeptierte es.

Das Schloss war natürlich riesig, teils gut erhalten, teils zerstört. Ich ging durch das hübsche Elisabethentor, vor dem sich die Japaner schon fleißig knipsten und landete danach mitten im Geschehen. Jedoch hatte ich mir von dem Schloss irgendwie mehr vorgestellt. Letztendlich gelangte ich zur Aussichtsplattform, die mir am besten gefiel. Man hatte den perfekten Blick über die Altstadt und ich versuchte mir vorzustellen, wie sich die Leute früher wohl gefühlt haben, als sie dort standen.

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Ins Schloss selber kam ich leider nicht. Oder ich war einfach zu blind, um den Eingang zu finden. Ich sah ’nur‘ das große Fass des Heidelberger Schlosses. Aber ich wusste nicht genau, was es damit auf sich hatte (…und ob es gefüllt war?…Mit Wein?). Es hatte jedenfalls monströse Maße. Ich konnte dem Fass nicht viel abgewinnen und entfernte mich rasch aus dem Keller, ohne mir das Fass noch einmal von oben angeschaut zu haben.
Als ich draußen war, suchte ich nach anderen Eingängen und fand nur die Tür zum Apothekenmuseum. Bevor ich dort meine Erkundungstour fortsetzte, lief ich durch den großen Schlossgarten. Enttäuschend, so ganz ohne Blumen und Prunk. Lediglich einige Baustellen waren zu sehen. Die Aussicht wurde zudem mit zugebretterten Zäunen versperrt – netterweise mit ausgestanzten Gucklöchern, damit man zumindest ein bisschen was sehen konnte. Ich hätte mir den Schlossgarten gerne weiter angeschaut, hatte aber das Gefühl, dass die Zeit drängt und ich mich beeilen müsse. Wahrscheinlich sah ich nur ein Bruchstück des Gartens. Die Schilder um mich herum zeigten mir, dass es noch andere Ecken gab.

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Auf dem Rückweg kreuzte ich eine Hochzeit, die auf dem Innenhof des Schlosses stattfand. Genau die Situation, die ich am allerliebsten meide. Leider musste ich erst einmal warten, bis der Fotograf ausreichend Fotos gemacht hatte. Also stand ich ungeduldig auf der Treppe und schaute mir ziemlich angepisst die ganze Szenerie an. Ich hasse Hochzeiten. Das ist der glänzende Weg ins Aus, obwohl ich es inzwischen manchmal auch anders sehe, mir aber trotzdem nicht sicher bin, was ich von einer Hochzeit halten soll. Selbst bei der Hochzeit meines Bruders konnte ich mich damals nicht zusammenreißen und zickte nur herum. Meine Antwort auf alle Fragen (Essen? Tanzen? Sekt?) lautete: Nein. Und dass, obwohl ich seine Trauzeugin war und für diese Aufgabe sogar mit einer ehrwürdigen Urkunde belohnt wurde. Heute weiß er, dass seine kleine Schwester mit ihrer Heiratsphilosophie recht hatte.
Als sie mit dem Hochzeits-Posing fertig waren und ich schon fast durch den Ausgang lief, bemerkte ich das Plakat mit dem Apothekenmuseum. Ich las nur: Eintritt frei. Das wusste ich vorher nicht. Da ich vorrangig in einem medizinischen Beruf arbeite, war es nicht verkehrt, sich nebenbei mal etwas weiterzubilden. Es war ein normales Museum: 50% Text und 50% ‚Anschauungsmaterial‘ (Gefäße, Pillen, Utensilien aller Art und die Gerüche alter Kräuter in der Luft). Ich hielt mich dort knapp eine Stunde auf, weil es mich einiges sehr interessierte.

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Ich stieg wieder in die Bergbahn. Beim Einsteigen vergewisserte ich mich noch einmal bei einem Opa und fragte, ob die wirklich nach oben fährt. Obwohl der LED-Pfeil es deutlich anzeigte. Der Opa nickte. Die Bahn hielt zwischendurch einmal und ein kleines Stück später musste man umsteigen in die historische Bergbahn (alte Version). Sie bestand aus Holz. Ich stieg mal wieder in ein mittleres Abteil, da die besten Plätze selbstverständlich schon belegt waren. Jeder wollte gerne entweder ganz vorne oder ganz hinten sitzen, denn das war am spannendsten. Mich erinnerte es im entferntesten Sinne an eine Achterbahnfahrt, nur in Zeitlupe und ohne Loopings. Aber vom Prinzip her ähnlich. Gemischt mit dem Gedanken, was passiert, wenn die Seile reißen. Rollt die Bergbahn dann rasant in den Abgrund oder bleibt sie stehen? Paar der Leute filmten die ganze Fahrt mit ihrem Handy. Wieder eine Sache, die ich nicht verstand. Denn: Wer will das sehen?
Die Endstation der Bergbahn rückte immer näher. Manchmal hatte ich den Eindruck, als würde sich die Station im 90° Grad-Winkel befinden. Jedes Mal, wenn man irgendwo ausstieg, musste man sein Ticket in einen Automaten stecken, damit sich die Schranke öffnete. Ich grinste, weil ich an meine Arbeit denken musste. Dort war auch alles geschlossen.
Die Aussicht auf dem Königstuhl (Berg, ca. 570 m hoch) war überwältigend. Die Häuser waren winzig, man erkannte nicht mehr viel. Aber man spürte den Wind, der deutlich kühler und stärker war. Als ich sah, dass es in den Bergen Heidelberg’s noch viel höher ging, faszinierte es mich umso mehr. Leider kam ich nicht weiter. Der Königstuhl bot an sich nicht viel. Dort stand nur ein Imbiss mit einigen Stühlen, daneben eine Falknerei und zahlreiche Wanderwege in der Umgebung. Ein schwarzer BMW fuhr an mir vorbei. Ich sah eine Mountainbikestrecke und Möglichkeiten für andere Arten des Extremsports, wie z.B. Paragliding. Daneben Schilder mit dem Vermerk, wie lebensgefährlich das alles sei.
Ungefähr 10 Minuten hielt ich mich auf dem Gelände auf. Sportler kamen mir mit ihren Mountainbikes entgegen und ich war in dem Moment neidisch auf sie, weil ich auch gerne fahren wollte. Ich hatte Lust auf Mountainbiking. Stattdessen konnte ich nur dastehen und zugucken, wie sie Spaß hatten. Etwas enttäuscht ging ich zurück zur Bergbahn. Ein letzter Blick von oben nach unten und dann hatte sich die Sache mit dem Königstuhl schon erledigt.

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Diesmal musste ich länger warten, bis die Bahn kam. Ich beobachtete einen älteren Mann in Hemd und Jeans, der dringend auf die Toilette musste und seine Familie mit seinem kindlichen Gequengel schon nervte. Seine Laune verschlechterte sich zusehends und ich amüsierte mich darüber sehr. Keiner wusste, wann die Bahn kommt und er war sich deshalb nicht sicher, ob er es schaffen würde, rechtzeitig eine Toilette zu finden. Als er es nicht länger aushalten konnte, drehte sich um und verschwand hinter der erstbesten Tür, die irgendwo hinführte. Er war weg und die Bahn kam. Alle stiegen ein, seine Familie saß mit mir im selben Abteil und auch der Mann war pünktlich wieder da. Danach quengelte er weiter. Er wollte ganz vorne im ersten Wagen sitzen, weil man da besser Fotos und Filme machen kann. Ich guckte den Mann komisch an. Er wirkte nämlich recht überdreht. Als wir beim zweiten Mal umstiegen, schaffte er es endlich, in den ersten Wagen zu gelangen und bekam zum Schluss seinen Willen. Süß.

Nach dem Erlebnis stand für mich nichts mehr an, außer das spätere Meeting. Ich wollte einfach nur noch einen Kaffee trinken und mich hinsetzen. Schließlich hatte ich bisher keine Pause gehabt.
Ich setzte mich in ein Café und trank Kaffee mit Eis. Mein Körper hatte es nötig, so unterversorgt, wie er war. Trotz meines Kreislaufproblems musste er noch einige Stunden auf diese Energiezufuhr warten. Welch selbstzerstörerischer Spleen. In meinem Magen herrschte danach Winter.

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Am Abend probierte ich die erste Kurfürstenkugel. Sie steckten den Transport in der Tasche nicht allzu gut weg. Immerhin waren die Kugeln dabei, als ich das Schloss besichtigte und den Königstuhl erklomm. Deshalb waren sie abends etwas angeschlagen. Egal, der Inhalt zählte.
Feines Mohrenkopfbiskuit, innen mit einem Kern aus Nugatcréme und außen köstlich von Marzipan und Schokolade umhüllt (Quelle: http://www.kurfuerstenkugel.com/cms/iwebs/default.aspx )

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Nach einer Kugel war ich so satt, dass ich die andere nicht mehr schaffte.

(19 – 22 Uhr Meeting)

3. Tag/Samstag: Philosophenweg & Neckar

Frühstück:
1 Vollkornbrötchen mit Quark, Käse und Nutella
Banane
Schoko-Gries-Pudding
1 Eclair
1 Keks
Kaffee, Saft
Nachmittags:
Cola
Abends:
Salat mit Mozzarella und getrockneten Tomaten mit Balsamico-Dressing
1 Kurfürstenkugel
Wasser

Der Tag begann wie gestern: Aufstehen, Frühstück und Planung des Tages via Handy.
Als ich beim Frühstück saß, kam plötzlich eine Horde Touristen in den Raum. Niemand wusste, ob die Plätze reichen, deswegen wurden die freien Plätze erst einmal gründlich ausgezählt. Aber irgendwie würde es wohl gehen, meinten die Leute dann. Ich war schon fast fertig mit dem Frühstück, wollte mir aber noch einen Saft holen. In der Zwischenzeit räumte die emsige Küchenhilfe schon meinen Platz ab, samt voller Tasse Kaffee, damit die anderen Gäste dort sitzen konnten. Ich rief: „Hey, ich bin noch nicht fertig! Da ist noch Kaffee drin!“ Ich hatte die Tasse eigentlich extra dort stehen lassen, damit klar war, dass ich gleich zurückkomme. Die Tasse war mein Platzhalter! Sofort stellte die Küchenhilfe alles wieder hin, bis auf das benutzte Geschirr. Sie entschuldigte sich und auch eine Frau unter den Gästen entschuldigte sich 2x bei mir. Ich sagte: „Nicht so schlimm. Alles gut.“ Lächeln.

An diesem Tag wollte ich wandern gehen. Im Odenwald auf dem Philosophenweg, der insgesamt ca. 3 km lang war und sich danach noch in andere Richtungen und Höhen schlängelte. Nur der Weg nahm dann andere Namen an.
Wie an jedem Tag musste ich dazu erst durch die gesamte Altstadt laufen, denn um die kam ich nie herum.
Meine Sonnenbrille trug ich immer. Inzwischen kannte ich die Vorteile, die man dadurch hat: Privatsphäre. Die Hauptstraße in der Altstadt war Heidelberg’s Catwalk. Jeder präsentierte sich dort und viele von ihnen leider ziemlich unvorteilhaft. Wenn man dick ist, sollte man sich nicht in einen bunten Jumpsuit quetschen, der von der Muschi gefressen wird. Aber es gab auch andere unschöne Styling-Sünden, bei denen ich nicht weggucken konnte.
Manchmal, wenn mir alles zu viel wurde, ging ich stur geradeaus – ohne nach links und nach rechts zu schauen – Kopf ein bisschen weiter nach oben, ohne Mimik im Gesicht und wartete ab, was passierte. Die Leute machten Platz und einige guckten hinterher, wobei die Gäste in den Cafés immer die Schlimmsten waren. Die waren schließlich eh nur zum Gucken da.
Manchmal, wenn mir danach war, nahm ich meine Sonnenbrille ab, suchte mir ältere Männer aus und lächelte sie einfach mal an. Da die meisten von denen Familie hatten, waren sie mit meinem Lächeln schon überfordert. Pech gehabt. Es tat mir ein wenig Leid – für sie und für mich.

Ich suchte die Gasse, durch die ich zur Alten Brücke kam. Aber ich nahm immer die falsche Gasse und ging letztendlich woanders lang, wo ich jedoch auch zum Ziel kam. Auf der Alten Brücke stand sie wieder – die Selfie-Population. Sie machten Bilder von sich und dieser dunklen Katzenstatue.
Die Brücke war mit Menschen überfüllt. Ich blieb stehen, sah herunter zum Wasser und als ich weitergehen wollte, stand vor mir ein Liebespaar, das sich knutschte. Mann, bitte nicht das auch noch, dachte ich. Die Frau war jedenfalls dick und gefiel mir nicht. Und er gefiel mir auch nicht. Nach diesem Check ging es mir gut. Wenn ich arrogant wäre, würde ich sagen: Mich darf fast niemand haben.

Von der Alten Brücke war es nicht mehr weit bis zum Philosophenweg. Einmal über die Ampel gehen und neben der Bushaltestelle begann der Weg. Zuerst ein geschachtelter Steinweg, mit groben Pflastersteinen und hohen Mauern an den Seiten. Der Weg verlief konsequent bergauf, schlängelte sich nach oben und ab und zu durfte man flache Treppen steigen. Es war anstrengend, gerade auch wegen der Hitze. Selbst ich kam aus der Puste, obwohl ich sportlich bin. Zwischendurch musste ich immer kurz innehalten und genoss die tolle Aussicht. Mittendrin gab es Aussichtsplattformen und Bänke, die aber alle schon besetzt waren. Eine längere Pause hatte ich auch nicht nötig. Nach ungefähr 12 Minuten kam ich oben an, total fertig und kaputt. Außerdem war ich komplett durchgeschwitzt und das mit 28 Jahren. Ein Grund, sich doll zu schämen. Aber ich stellte fest, dass jeder kaputt war und/oder unter Luftnot litt, der den ersten Teil des Philosophenwegs bewältigte. Alle schnieften und schwitzten. Jeder, der es nicht tat, war ein Fake oder ein ehrgeiziger Hochleistungssportler.

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Oben angekommen. Alles war wieder einfach und gut. Der Weg ging nach links und nach rechts. Ich ging zuerst in die linke Richtung. Viele Meter hoch, entlang der Stadt. Wunderschöne Aussicht und überall Bänke. Typisch für Wanderwege: Viel Grün, viel Natur. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Der Weg gabelte sich zwischendurch in andere Richtungen. Es war nicht nur ein Weg. Ich kam an einer Imbissbude vorbei. Dort gab es Eis und Getränke. Ich lief so lange geradeaus, bis ich in einem Stadtteil wieder herauskam. In dem Stadtteil, wo die teuersten Häuser und Villen stehen. Ich ging wieder zurück, da ich den kompletten Philosophenweg erleben wollte. Der Weg führte wenig später in den Wald hinein. Dort war ich völlig alleine und ich wunderte mich, wo all die anderen Menschen waren. Mit so viel Einsamkeit rechnete ich nicht. Aber ich dachte auch nicht daran, zurückzugehen. Ich hatte keine Angst. An Männer, die einem auflauern, denke ich sowieso nicht. Trotzdem kam der Gedanke in diesem Wald immer mal wieder durch. Ich fühlte mich tatsächlich sehr alleine und drehte mich ständig um, ob nicht doch andere Leute in Sicht sind.

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In großen Abständen kamen mir Jogger und Radfahrer entgegen. Sonst niemand. Ich gab mir Mühe, nichts Negatives zu denken. Mich würde hier schon niemand umbringen, obwohl dieser Wald perfekt dazu war. Überall hohe Bäume und Vogelgezwitscher. Die Stimmung fühlte sich teilweise unwirklich an. So, als ob ich nicht wirklich da war. Meine Gefühlswelt spielte mir einen Streich. Derealisation. Dieses Gefühl, als ob man tot wäre und irgendwo anders ist. Und vor allem: Nicht im eigenen Körper. Es überwältigte mich, was dieser Weg mit mir anrichtete. Es war eine dieser intensiven Erfahrungen und dieser Weg regte einen tatsächlich dazu an, sehr nachdenklich zu werden und zu sich zu kommen – auf welche Art auch immer. Ich lief bis zum Ende. Natürlich war es längst nicht das Ende, es ging noch viel weiter. Nur wie weit? Auf meinem Navi ließ es sich nicht erkennen. Ich denke, es waren noch mehrere Kilometer. Auf Steinen standen in weißer Farbe die Namen der Wege, sodass man sich kaum verlaufen konnte.
Zumindest hatte ich mein Ziel für diesen Tag erreicht und mir qualmten die Füße. Sie taten weh. Aber Blasen waren noch nicht in Sicht.

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Auf dem Rückweg, gegen Mittag, kamen mir mehr Menschen entgegen. Der Weg füllte sich mit Leben, im Gegensatz zu morgens. Ich war erleichtert, nicht mehr alleine zu sein und wurde innerlich deutlich ruhiger, als vorher. Jetzt weiß ich, dass es doch Dinge gibt, vor denen ich Angst habe.
Als ich den Schlängelweg (eigentlich Schlangenweg) wieder hinunterging, war ich genauso platt. Auch der Abgang erwies sich als nicht allzu prickelnd. Es war auch anstrengend. Ich musste mich konzentrieren, nicht über die unebenen Steine zu stolpern oder über die Stufenkanten. Ich hielt mich wie eine alte Oma an den Seiten fest und bewegte mich nur vorsichtig. Trotzdem stolperte ich. Aber nicht so, dass ich hinfiel. Froh war ich, als ich heil vor der Alten Brücke stand.
Jetzt brauchte ich Entspannung und mir fiel spontan eine Bootstour ein. Wenn ich schon mal hier bin, dann auch AUF dem Neckar. Außerdem liebte ich Schiffe als Kapitänstochter.

Boote gab es genug. Ich entschied mich für die ‚Neckar-Sonne‘ – ein solarbetriebenes Boot mit nichtüberdachten Plätzen. Es fuhr stündlich und machte Rundfahrten über den Neckar.
Da ich noch Zeit hatte, ging ich am Neckar entlang und guckte mir die anderen Schiffe an, die alle unterschiedliche Fahrten im Angebot hatten. Unter anderem auch Burgenfahrten, die länger dauerten. Auch interessant, aber ich wollte gerade nichts Großes planen, wo man sich vorher anmelden musste. Als ich zur Neckar-Sonne zurückging, saßen schon Leute auf dem Schiff. Eine Fahrt kostete 8€ und ich suchte mir einen Platz direkt am Ende. Gleich wurde ich gefragt, ob ich was trinken möchte und ich bestellte mir eine Cola. Die Sonne schien die ganze Zeit und verursachte einen Sonnenbrand auf meinem Nacken.
Auf dem Boot war ein Mädel in meinem Alter mit einem Freund, der ungefähr 20 Jahre älter war. Ich konnte das Mädel absolut verstehen. Und ihn auch. Wie schnell ich bei dem Anblick wieder ins Schwärmen geriet – oh Mann!

Die Fahrt auf dem Schiff war normal. Nur dass die Geräusche des Motors fehlten, da solarbetrieben. Eine ruhige Fahrt und aus dem Lautsprechern wurde Heidelberg erklärt. Allerdings verstand ich kaum etwas. Das Schiff fuhr langsam über den Neckar, sodass man die Stadt von allen Seiten betrachten konnte. Eigentlich sah man nur Häuser und Teile des großen Klinikgeländes, sowie Liegewiesen und halbnackte Menschen. Wasser, Brücken und mehrere Krankenwagen und Polizei fuhren im Schnelltempo durch die Stadt. Das war die Schifffahrt. Am Ende musste ich noch meine Cola bezahlen. An Trinkgeld dachte ich allerdings nicht.

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Nach dem Ausflug ging ich Shoppen und lief durch die Weststadt zum Hotel zurück, um nicht immer die gleichen Wege zu nehmen. Auch die Weststadt bestand aus sehr schicken Häusern und war anscheinend eine beliebte Wohngegend. Ziemlich gediegen und ohne Trubel.

Abends trieb es mich zu Kaufland, das war gleich in der Nähe. Ich wollte einen Salat und hatte keine Lust mehr, mich in ein überfülltes Restaurant zu setzen. Sicherheitshalber kaufte ich noch Blasenpflaster, bevor alles zu spät war und ich nicht mehr laufen konnte. Meine Füße waren von der Wandertour schwarz. Entweder war es Dreck oder meine Schuhe färbten ab. Im Kaufland suchte ich außerdem noch eine Flasche Wasser, komischerweise fand ich nur eine Sorte. Eine andere Frau suchte auch erfolglos nach Wasser. Die hatten alles, aber nur eine Sorte Wasser? Verrückt. Den Salat musste ich genauso suchen, fand dann aber ein ganzes Regal. Mehr wollte ich auch gar nicht.

Als ich im Hotel war, aß ich den Salat samt Kurfürstenkugel und wartete auf das Meeting.

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(21 – 1 Uhr Meeting)

4. Tag/Sonntag: Bergfriedhof & Philosophenweg

Frühstück:
1 Vollkornbrötchen mit Käse und Nutella
Pfirsich Quark
kleine Portion Müsli
Kaffee, Apfelsaft
Nachmittags:
Eiskaffee mit Vanille-Sirup und Sahne
Cola
Abends:
1 Veggie-Burger
Mc Flurry

Frühstück wie immer. Nur, dass ich diesmal so clever war und mir mein Frühstück nicht stückchenweise, sondern gleich komplett holte. Für den Fall, dass mein Platz wieder zu früh abgeräumt wurde.

Dieser Tag begann auf dem Bergfriedhof. Am Eingang stand eine Tafel mit Informationen und Wegbeschreibungen.Wie sein Name schon verrät, handelt es sich um einen Berg mit Friedhof. Ich erzähle nicht viel über den Friedhof, weil Friedhöfe sich von selbst erklären. Dennoch fand ich den Friedhof aufregend. Er war aufgebaut wie ein Labyrinth. Zahlreiche Wege und manche von ihnen endeten im Nichts. Ich fand immer wieder neue Stufen und stieg immer höher auf den Berg, auf dem überall Steine, größere und kleinere Grabstellen verteilt waren. Auf diesem Friedhof lagen definitiv viele Professoren, Mediziner und sogar Erfinder. Ich war beeindruckt. Manche Treppen waren alt und verwildert. Außerdem gab es kaum Absperrungen auf den schmalen Wegen. Wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht abrutschen und abstürzen.
Als nach 3.5 Stunden Bergfriedhof dieses seltsame Gefühl in mir aufkam, wusste ich, dass ich jetzt lieber gehen sollte. Das Gefühl von tiefer Nachdenklichkeit, körperlicher Vergänglichkeit, Mitleid und Melancholie. Wenn man sich fragt, ob man privat alles richtig macht oder was einem noch im Leben erwartet. Oder auch nicht…? Oder was ich mache, wenn ich nur noch einen Tag lebe oder krank werde,..körperlich. Oder einen Unfall habe, obwohl ich diese bisher immer mit nachfolgender Belastungsstörung überlebte. Gewisse Situationen bleiben für immer präsent und tauchen als Flashback wieder auf.
Bevor ich mich in diese Gedanken weiter hineinsteigern konnte, verließ ich den Friedhof sehr zügig. Ich wollte so schnell wie möglich weg und fand keinen Ausgang. Dabei wirkte der Friedhof zuerst noch recht überschaubar. Zum Glück fand ich den Ausgang bald.

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Danach schaltete ich sofort meinen MP3-Player an, um mich abzulenken.Vor dem Friedhof stand ein Lamborghini und ich war völlig geschockt, so ein Auto dort stehen zu sehen, wo ich es am allerwenigsten erwartete. Ich konnte es wirklich nicht fassen und blieb erst einmal wie erstarrt stehen. Vielleicht war der ja nur gemietet und kein Eigentum. Obwohl ich so geflasht war, schaffte ich es trotzdem, weiterzugehen. Ich musste ja nicht sehen, zu wem der gehört.

Mein nächster Weg: Altstadt – Alte Brücke – Philosophenweg.

Bevor ich mit der Wanderung anfing, machte ich einen Abstecher zum Kaffeetrinken, sonst würde ich umkippen, bei dem Durst, den ich hatte. Ich bestellte Kaffee mit Vanille-Eis, aber leider war der ausverkauft. Kein Wunder, bei der Hitze war das der begehrteste Kaffee. Mir wurde stattdessen Eiskaffee mit Vanille-Sirup angeboten. Der schmeckte zwar nicht ganz so gut, war aber okay. So wählerisch war ich nicht. Hauptsache, Kaffee – kalt.

Danach ging es sofort weiter. Obwohl man bei der Wärme auch super herumsitzen konnte. Zufällig kam ich noch an einem Wellness-Laden vorbei. Hauptthema: gesundes Essen. Bio natürlich und aus eigener Herstellung. Ich nahm Kräuter-Kräcker, denn mit Apfelchips, Vollkorn-Orangenkeksen und Saucen konnte ich nichts anfangen. Der Laden war nicht wirklich mein Fall. Zu viel Bio und Geschmacksvariationen, die nicht meine waren.

Ansonsten: Gleiches Programm wie gestern. Anstrengender Aufstieg, Schweiß und Hitze.
Unterschied: Auf dem Philosophenweg war mehr los (ab 14 Uhr).
Ich lief die gleiche Strecke, wie am Tag zuvor – nur ein Stück weiter. Überall wanderten Leute, auch tiefer im Wald. Dann kam eine Frau auf mich zu, die eine Wanderkarte in der Hand hielt: „Kennen Sie sich hier aus“, fragte sie mich.
„Nein, ich bin auch nicht von hier. Leider kann ich Ihnen nicht helfen.“
„Okay, trotzdem danke!“

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All meine Eindrücke bzw. mein Erleben auf dem Weg glichen dem Vortag: Nachdenklichkeit, Freiheit und Glück. Ich merkte, dass Wandern eine gute Entspannungsalternative ist und dass ich es öfters machen sollte, wenn ich mich seltsam fühle oder wenn sich irgendetwas in mir anbahnt. Wahrscheinlich brauche ich diese Mischung aus Ruhe und Aktivität. Vielleicht ist das für mich genauso passend, wie meine aktuellen Favoriten: Fitnessstudio, Chiasamen und Detox.

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Ich bekam wieder wahnsinnigen Durst. Natürlich hatte ich auch diesmal nichts zum Trinken mit und musste warten, bis ich wieder am einzigen Imbiss vorbeikam. Vorher war eine Pause auf der Bank nötig, da meine Füße und Beine vom vielen Laufen pulsierten. Nach 10 Minuten machte ich mich wieder auf den Weg. Jetzt fiel das Aufstehen umso schwerer, da mein ganzer Körper nur noch wehtat. Wenn ich zählte, wie viele Kilometer ich in den letzten Tagen insgesamt zurücklegte, war das kein Wunder. Am Tag kam ich locker auf 15 Km und vielleicht sogar noch mehr. Ich kaufte mir eine Cola und setzte mich auf eine etwas abgelegenere Bank in den Schatten. Dann dachte ich kurz darüber nach, dass es bis zum Hotel noch weit war und beschloss, nicht weiter daran zu denken, sondern nachher einfach zu laufen. Wenn man an unangenehme Dinge denkt, werden sie schlimmer. Ich dachte also an nichts mehr. Nur noch ans Jetzt.

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Auf dem Rückweg zog sich allmählich der Himmel zu und es wurde immer dunkler. Ich ging also genau im richtigen Moment los. In der Altstadt sah es nach Gewitter aus und es wehte plötzlich ein kühler Wind durch die Straße. Trotzdem standen die Leute Schlange, um ein Eis zu bekommen. Ich begriff nicht, warum sie so viel Geduld hatten, so lange zu warten, wenn vor ihnen schon 20 Leute bedient werden wollten. Sollte man für ein Eis so viel Zeit investieren?
Wenn sie Glück hatten, durften sie ihr Eis gleich im Regen mit Blitz und Donner essen.

Ich lief im Schnellschritt, weil ich nicht im Gewitter enden wollte. Allerdings musste ich mir noch irgendwo etwas zu essen kaufen, obwohl ich die Kräuter-Kräcker in der Tasche hatte. Nur hatte ich darauf gerade keinen Appetit und wollte etwas Anständiges.
Also lief ich auf dem Rückweg zu Mc Donald’s, da ich keine Lust auf andere Experimente und unbekannte Läden hatte. Der Bio-Shop reichte schon. Zwar der Besuch bei Mc Donald’s für mich eine Seltenheit, aber ich wusste, dass ich dort fündig werde. Ich nahm einen Veggie-Burger und einen Mc Flurry. Alles andere interessierte mich kaum. Allerdings verstand mich die Bedienung nicht richtig und fragte, welche Sorte Fleisch ich drin haben wollte. Was war an Veggie nur falsch zu verstehen? Lag vielleicht daran, dass der Typ unaufmerksam war, bei all den Geräuschen.

Im Hotel wartete ich nicht lange. Zuerst aß ich den Burger und dann das Eis. Danach Einatmen, Ausatmen, Ruhe. Und später Meeting. Plötzlich fing ich an zu weinen. Viel zu spontan, unangemessen und ziemlich ohne Grund. Oh Mann, bitte nicht schon wieder diese Emotionen, die aus dem Nichts kommen. Ungefähr 5 Minuten weinte ich heftig und ließ es einfach geschehen. Niemand sah mich, also musste ich mich nicht für meine kranke Seite rechtfertigen. Die gestörte Seite, die immer mal wieder ohne Ankündigung durchkommt und den Zustand meiner angeschickerten Seele repräsentiert. Mir war bewusst, dass es an diesem Tag eine Situation gab, die mein Unterbewusstsein triggerte. Dann wusste ich es: Es war der Friedhof, der in mir etwas auslöste. Was genau, das kann ich nicht sagen. Meine Emotion hing mit irgendeinem unbekannten Defizit und innerem Konflikt zusammen, den ich nicht kannte. Ich muss also erst herausfinden, um was für einen Defizit es sich handelt und beschloss, die Sache erst einmal ruhen zu lassen, bis sie sich von alleine löst, z.B. durch neue Erfahrungen oder mehr Reife.
Nach 5 Minuten war alles wieder in Ordnung und ich fühlte mich kein bisschen schlecht. Sondern ganz ’normal‘.

(21 – 1 Uhr Meeting)

Als ich nachts wieder zurück kam, war alles so anders, denn das war der letzte Tag in Heidelberg. Die Zeit verging – wie immer – viel zu schnell. Aber es hat gereicht, um die schönsten Orte zu sehen und ein wenig kennenzulernen. Wäre ich ein Heidelberger, würde ich jeden Tag wandern gehen. Dabei kann ich bei mir zu Hause sogar am Strand entlangwandern. Ist das nicht eigentlich auch schön? Würden das die Heidelberger nicht auch gerne tun? Man will doch immer das, was man nicht haben kann und wenn man es hat, dann ist es nicht mehr so spannend. Man schätzt die Dinge und manche Gelegenheiten einfach zu wenig.
Ich packte noch schnell die Sachen für meine Reisetasche zusammen, denn morgen früh war es mir zu spät. Zwar hatte ich nicht allzu viel mit, aber es reichte, dass die Tasche schwerer wurde, als auf der Hinfahrt. Nachdem die Tasche gepackt und ich duschen war, konnte ich mit einem ruhigen Gewissen einschlafen. Alles war reisefertig und passte in die Tasche.

Draußen regnete es, sowie abends schon. Ich hörte ein Donnern, aber letztendlich waren es nur die Geräusche eines Feuerwerks oder einer Party. In Heidelberg war abends viel los, völlig ruhig wurde es nie. Großstadtfeeling. Manchmal hörte man betrunkene Leute und manchmal war es nur das Rollen eines Koffers auf dem Asphalt. Obwohl ich in einer noch größeren Stadt lebte, war es hier anders. Lauter, kultivierter und lebendiger. Oder ich wohnte bei mir einfach in der falschen Ecke, in der es zu gediegen zuging. Im gegenüberliegenden Haus fielen die Rollläden zu. Ich schaute nach, ob es an meinem Fenster auch so etwas gab – ja.
Dann tat ich dem Nachbarn gleich und ließ sie zum ersten Mal seit meinem Aufenthalt herunter.
Anschließend ging ich zu Bett. Im Zimmer war es schwarz. Dieses Schwarz machte mir Angst, es engte mich ein und schnürte mir die Luft ab. Ich bekam Panik. Reflexartig machte ich die Nachttischlampe an und zog die Rollläden wieder hoch. Wie konnte man nur in so einem schwarzen Raum schlafen? Grausam. Mir war es lieber, das Licht der Laternen oder des Mondes zu sehen, als in dieser völligen Schwärze verschlungen zu werden und sich wie tot zu fühlen. Mit offenem Fenster und lichtdurchlässigen Vorhängen fühlte ich mich wohler.

Die Nacht war dennoch schlaflos. Innere Unruhe, viele Pläne und die unterschiedlichsten Gedanken. Es war kein Grübeln. Aber in meinem Kopf war es bunt, wie es für einen kreativen Geist üblich ist. Ich möchte viel machen und habe Angst, dass mein Leben zu kurz dafür ist. Es ist schlimm, wenn man den eigenen Erfolg nicht sieht und denkt, dass man nie genug tut, obwohl man jeden Tag überdurchschnittlich viel arbeitet. Ich bin einfach verkorkst und blind für meine Leistung, weil es für mich zu selbstverständlich ist, all das zu tun, was ich tue.

5. Tag/Montag: Abreise

Frühstück:
1 Vollkornbrötchen mit Käse, Nutella und Schinken (Sorry…Ausnahme)
Mini Quarkschnecke
Erdbeer Griespudding
1 Ecke Camembert
Kaffee
Abends:
paar Kräuter-Kräcker
Ginger Ale

Frühstück wie immer. Nur diesmal hatte ich Appetit auf Schinken und wunderte mich, warum. Warum plötzlich dieser Heißhunger auf Schinken? Es war zum Glück nur eine Scheibe.
Den Rest des Morgens verbrachte ich im Zimmer, auf dem Bett sitzend. Ohne dabei etwas anderes zu tun. Ich war also ziemlich bei mir. Neutral und abreisebereit.
Gegen 10 Uhr checkte ich aus. Mit wenigen Worten und einem Lächeln.

Am Bahnhof kam ich an dem Donut-Laden vorbei. Aber ich hatte keinen Appetit und brauchte nichts für den Zug. Bei den vielen Sorten von Donuts konnte ich mich eh wieder nicht entscheiden. Ich ging zwar kurz in den Laden, schaute über die Theke, aber es war mir zu viel. Zu viel Auswahl. Ich wollte nicht mit diesem Überangebot konfrontiert werden und hatte keine Lust, Entscheidungen zu treffen. Auch wenn es nur um einen einfachen bekloppten Donut ging. Dann lieber gar nichts. Lieber Hungern.

Ich saß 45 Minuten am Bahnhof auf der Bank. Es war trübe und kalt. Ich trug nur ein dünnes T-Shirt unter der Jacke und fing bald an zu frieren. Ekliges Wetter, so ganz ohne Sonne und mit Regenwolken. Trotzdem verging die Zeit überraschend schnell und dass, obwohl ich nicht mal mehr Gedanken im Kopf hatte, weil ich zu müde war.
Der Zug kam pünktlich und auf meinem reservierten Platz saß jemand. Ohh, dachte ich. Aber reserviert ist reserviert – ein bezahlter Platz. Also warum sollte ICH mir dann einen anderen Platz suchen? Das sah ich gar nicht ein.
Ich sagte freundlich: „Guten Morgen! Dürfte ich Sie bitten, aufzustehen? Ich habe diesen Platz reserviert [smile].“
Die Frau, die dort am Fenster saß packte in Windeseile ihre Sachen zusammen und sagte verlegen: „Oh, entschuldigen Sie! Tut mir Leid!“
Und während sie ihre Sachen packte, versuchte ich nett weiterzulächeln und tat so, als wäre alles gar nicht so schlimm.
Als sie an mir vorbeihuschte, sagte ich aufrichtig: „Danke….[smile]….Danke! [smiiiillllllllee]“
Nun konnte ich ungestört auf meinem Platz sitzen. Und dachte danach darüber nach, ob es wirklich okay war, die Frau wegzuscheuchen. Aber ich denke, jeder Anwalt wäre rechtlich auf meiner Seite gewesen. Ich versuchte also, die Sache aus den Augen meines Anwalts zu sehen und mich in sein Wissen hineinzufühlen, obwohl ich in Rechtskunde immer eine Eins auf dem Zeugnis hatte und es selber wissen musste.

Nächster Umstieg war in Frankfurt/Main.
Der ICE kam und ich stand genau vorm falschen Wagen – Wagen Nr. 14 und Wagen Nr. 2 war mein Ziel. Ich rannte so weit vor, wie ich es in der kurzen Zeit schaffte und stieg in den Wagen Nr. 4, damit der Zug nicht eher losfuhr, als ich drinnen war. Der ICE wartete immerhin nicht ewig und alle anderen Leuten waren schon eingestiegen, sodass ich draußen die Letzte war. Den Zug hätte ich nicht verpassen dürfen.
Im Abteil 2 suchte ich den Platz und mein Fuß verhedderte sich in irgendetwas. Ich befreite mich aus diesem komischen Bandsalat und die dazugehörige Person entschuldigte sich, als sie das Malheur bemerkte. Ich wusste nicht, was das war. Die Schnur war rot und es handelte sich nicht um Kopfhörer. Ich hoffte, dass ich nichts kaputt gemacht hatte. Die Person sagte nichts weiter.
Ich fand meinen Platz nicht. 116. Beim Umkehren fand ich heraus, dass Platz Nr. 116 eine 6er Kabine war. Dort saß schon eine Familie mit einem Teenie und einem Kind. Zum Glück verhielten sich alle ruhig und ließen keinen Stress aufkommen. Trotzdem war ich nicht gerade begeistert. Lieber wollte ich meine Ruhe haben, als mit anderen in so einer engen Kabine zu sitzen. Es wurde häufig gegessen und die Handys wurden dauerbespielt.
Nächste Frage: Warum muss man sein Handy permanent in der Hand haben? Geht es denn gar nicht mehr ohne? Die Frage stelle ich mir oft. Es ist so, als würde man ohne nicht mehr klarkommen. Als ob man kein eigenes Leben mehr hätte. Ständig mit anderen Menschen kommunizieren oder dumme Spiele-Apps herunterladen. Klar brauche ich mein Handy auch, um berufliche Kontakte zu knüpfen und auch für Nebensächliches. Aber ich hänge nicht daran und bin auch nicht süchtig nach Aufmerksamkeit und Gesellschaft. Man muss auch mal alleine sein können.

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Letzter Umstieg: Hamburg.
Dort war ich wieder auf gewohntem Boden. Mein Anschlusszug stand schon, das sah ich vom Weitem. Nun musste ich es nur noch irgendwie dorthin schaffen. Wieder schlängelte ich mich durch die Leute, die überall herum und ziemlich im Wege standen. Rolltreppe hoch und Treppe runter. All das im besonders schnellem Tempo, denn ich wollte nur noch in den Zug und die letzte Etappe starten, denn ich war körperlich und psychisch sehr angeschlagen nach der langen Fahrt. Das überraschte mich selber, denn normalerweise steckte ich Reisen bisher immer gut weg und mochte es sogar. Nur diesmal war es anders und ich kann gar nicht sagen, warum. Vielleicht wollte ich gerade einfach nicht in Hamburg sein. Nicht jedes Mal die gleichen Erinnerungen spüren, wenn ich mich dort am Hauptbahnhof befand. Sehnsucht. Nach jemandem, der in Hamburg gleich in der Nähe vom Bahnhof wohnte.

Im Zug setzte ich mich ans Fenster und in die Richtung, die meiner Meinung nach,vorwärts fuhr.
Ich schaute aus dem Fenster, nachdenklich und wehmütig. Dachte an die letzten Tage, den Job und die vielen Erlebnisse. Dann dachte ich an Hamburg und beobachtete die Menschen, die am Bahnsteig standen. Nichts Besonderes zu sehen.
Immer wieder der Gedanke: Ich möchte die Zeit um ein Jahr zurückspulen – bitte. Noch nie habe ich mir so sehr eine Zeitreise gewünscht und kam ins Träumen. Was wäre wenn…
Als der Zug nach ca. 20 Minuten losfuhr, wurde ich in die Realität zurückgeholt. Ich durfte die Fahrt mal wieder rückwärts genießen. Oh Mann! Langsam hatte ich es wirklich satt. Einen neuen Platz konnte ich mir nicht suchen, da aus meinem Blickwinkel heraus alles besetzt schien. Na gut, die drei Stunden bis nach Hause würde ich jetzt auch noch aushalten. Es dauerte nicht lange, als sich eine dicke Frau zu mir setzte und Kreuzworträtzel machte. Aber sie blieb nicht lange, sondern setzte sich nachher woanders hin, als es im Zug leerer wurde.
Die Fahrt kam mir vor, wie eine Ewigkeit, da der Zug zwischendurch immer mal wieder anhalten musste, um andere Schnellzüge vorbei zu lassen.
Ab Schwerin wurde alles wie früher, da ich diese Strecke sehr oft fuhr. Auch das weckte einige alte Erinnerungen. So schnell wird man älter, ohne es zu spüren.

Ich freute mich, als ich endlich am Bahnhof zu Hause ankam und das letzte Stück mit der Straßenbahn fuhr.
Sogar der Briefkasten war, bis auf einen Gutschein, diesmal leer. Eigentlich fühlte ich mich viel zu kaputt, um meine Tasche noch auszupacken. Aber nach einer Tasse Kaffee riss ich mich zusammen und packte meine Sachen aus. Danach war der Abend für mich gelaufen, ging duschen und verschwand anschließend sofort im Bett.
In dieser Nacht wachte ich kein einziges Mal auf.

Berlin’s Straßen

 

Nach einem Blitzgedanken folgt sofort eine Tat.

So war es auch diesmal, als ich meine Wut und Enttäuschung über den misslungenen Abend nicht mehr verdrängen konnte und das Gefühl bekam, ausbrechen zu müssen. 

Weg, weg, weg!

Weg aus diesem Zimmer, weg aus dieser Situation und weg von diesem Mann.

Während ich im Bett auf dem Rücken lag und fassungslos an die Wand mit dem rot flimmernden LED-Streifen starrte, erinnerte mich das Licht an meine innere Wut, die erbarmungslos in mir hochstieg und wie eine Flasche Cola mit Corega Tabs sprudelte. Ich hasste dieses Gefühl, denn ich wusste, dass ich nicht in der Lage war, es zu kontrollieren und zu drosseln. 

Das war nicht der Abend, den ich mir vorstellte, denn dieses Rot verursachte mittlerweile keine Erotik mehr, sondern förderte meine Aggression und meinen Fluchtreflex. 

Ich haue ab. 

Dieser Gedanke war so schnell da, dass ich eine Sekunde später schon handelte. Ohne weitere Worte zog ich meinen Schlafanzug aus und suchte mein Kleid, das irgendwo neben dem Bett lag. Danach sammelte ich das Bett nach meinen Ohrsteckern ab, die verstreut unter dem Kopfkissen und am Fußende lagen. Mir war alles egal, außer, dass ich nichts in dieser Wohnung vergessen wollte, da ich beschloss, nie wieder zurückzukommen. Für mich war es jetzt nur noch die Wohnung eines impotenten Verlierers und nicht die eines potentiellen Lovers.

Mehrmals checkte ich meine XXL-Handtasche, ob auch alles drin war. Vor Aufregung war ich völlig unkonzentriert und meine Hände zitterten. Auch mein Herz zitterte, weil es dehydriert war und meinen Puls rasen ließ. Ich hatte seit mehreren Stunden nichts gegessen und nichts getrunken. Mein Kreislauf litt spürbar, aber ich ignorierte meinen Körper und versuchte nur meiner verletzten Seele zu helfen, indem ich einen Ausweg suchte.

Als ich mir sicher war, dass der Inhalt meiner Tasche komplett war, verabschiedete ich mich von dem Mann, der keinen hochbekam und der nicht wusste, was los ist. Schließlich war er bekifft und in einer anderen Dimension, die nicht meine war. Er war in einem psychedelischen Dämmerzustand, in dem alles immer so schön ist. Alles so schön unrealistisch vor allem. Ich konnte dieses Hippie-Gerede nicht mehr ertragen und die verweichlichten Folgen im Genitalbereich schon gar nicht. Hippies wollen nur kuscheln, denn zu mehr sind sie gar nicht fähig. 

Mein Abschied bestand aus einem Satz, in dem ich sagte: „Sowas hab ich noch nie erlebt, du Arsch.“ Am liebsten hätte ich dabei noch auf sein schlaffes Ding gezeigt, um den Satz bedeutender zu machen. Aber da er seinen Kopf im Kopfkissen vergrub, war er sowieso blind. Und taub. Er gab mir keine Antwort. Wahrscheinlich dachte er, dass alles nur ein Traum ist und dass ich, wenn er wach wird, nackt neben ihm liege und ihn sanft streichele. Schließlich ist jede Berührung ein Geschenk und ein kleiner Orgasmus. Kiffende Männer brauchen nämlich keinen Penis mehr, weil Kuscheln der bessere Sex ist. 

…Definitiv…

Ich zog ab, ohne noch einmal einen Blick in den Badezimmerspiegel zu werfen. Da ich kaum geschminkt war, hatte ich nichts zu befürchten. Nur unsichtbare Spucke und ein paar Stressflecken im Gesicht. Aber in Berlin guckt dich eh niemand an, wenn du im Chaos der Stadt untergehst. 

Ich war froh, dass ich die passende Kleidung trug, die meinen Oberkörper und meine Füße warmhielt. Meine Beine mussten sich allerdings an die niedrigen Temperaturen gewöhnen, da sie nur von einer dünnen Strumpfhose bedeckt wurden. Eigentlich sollte ich um diese Zeit unter einer warmen Bettdecke neben einer voll aufgedrehten Heizung liegen. Aber ich entschied mich für die harten Konsequenzen einer spontanen Flucht. 

Es war eine Flucht ins Unbekannte. Hinaus aus einer vertrauten Wohnung eines bekannten Kiffers und hinaus in das Leben fremder Penner, die auf der Straße ihren Schlafplatz haben und einem gierig hinterherschauen oder obszöne Begriffe von sich geben.

Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich eine Nacht auf der Straße verbrachte. Aber es war trotzdem anders. Ein Winter ohne Schnee kann auch kalt sein, wenn man nicht viel Speck mit sich herumträgt und alleine ist. Wenn man nur sich hat und durch niemanden abgelenkt wird. 

Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Diesmal setzte ich mich auf keine Bank, auf der ich verharrte und geduldig wartete, bis der Morgen anfing. Es war zu kalt, um zu warten und es war zu kalt, um sich irgendwo hinzulegen. Hier war es nachts überall laut. Das kannte ich von zu Hause nicht. Da war es nachts still und die Straßenbahn fuhr erst ab vier Uhr, außer am Wochenende.

Eigentlich hätte ich mir ein Hotel suchen können, bei all der Auswahl um mich herum. Vielleicht wäre eines dabei gewesen, das nicht mein ganzes Budget vernichtet hätte. Aber ich bin einfach kein Hotelmensch, wenn es nicht gerade um Urlaub geht. Ich wollte nicht für paar Stunden ins Hotel, denn für mich war das Geldverschwendung. Es lohnte sich einfach nicht und die fehlende Nacht konnte ich zu Hause auf meiner Couch unter meiner extrawarmen Decke nachholen. Darauf freute ich mich schon und musste bei dem Gedanken grinsen.

Also ging ich ziellos die Straßen entlang, um die nächsten acht Stunden herumzukriegen und um in Bewegung zu bleiben, damit mir nicht kalt wurde. Das Gefühl, so orientierungslos zu sein, machte mir Angst. Allerdings konnte ich mein Handy auch nicht die ganze Nacht anlassen, da ich später noch genug Akku brauchte, um den Busfahrer auf dem Display mein Ticket zu zeigen, das per App funktionierte. Mein Handy frisst viel Akku. Deshalb nutzte ich mein Handy-Navi nur sporadisch und laut Navi war die Bushaltestelle für mich unendlich weit entfernt. Aber dennoch zu Fuß erreichbar. Für jemanden, der sich auskannte, war das keine Herausforderung. Aber dieser Jemand war ich leider nicht. Sondern ich war eher ein Niemand.

Die nächtliche Kälte zog stur an meinem Körper und ich fror langsam. Es war nicht windstill, verdammt..!

Außerdem kamen Zweifel auf, nachdem ich ungefähr zwei Stunden pausenlos unterwegs war. Hätte ich die paar Stunden nicht doch noch bei ihm aushalten können? Immerhin war nichts Schlimmes passiert, bei all seiner lethargischen Inaktivität. Ich war lediglich wütend auf sein verkuscheltes und stumpfsinniges Verhalten. Aber es war nicht lebensbedrohlich und somit kein richtiger Grund, abzuhauen. 

Und dennoch hielt ich es nicht aus. Ich hätte dort keine einzige Stunde mehr verbringen können, weil ich mich nicht wohlfühlte zwischen den Räucherstäbchen und dem Kiffzeug, das man überall roch. Mir waren die giftigen Abgase der Stadt lieber, die ich unwillkürlich inhalierte und den Geruch nur unbewusst durch meine Nase aufnahm. Die Großstadt roch besser, als dieses von Drogen vernebelte kleine Zimmer.

Ich durchquerte viele Straßen und passte an jeder Ampel auf, nicht vor ein unaufmerksames Auto zu geraten, da die Farben der Ampeln hier teilweise von den Autofahrern ignoriert wurden. Irgendwie waren es die Taxifahrer, die gern etwas drängelten, weil sie unter Zeitdruck standen.

Wenn ich nicht gerade eine Kreuzung überquerte, was sehr oft vorkam, schaute ich mir flüchtig die Schaufenster an. Denn davon gab es auch genug. Berlin hat ein Überangebot an Konsumartikeln. 

In der Nacht fiel es mir leichter, an Schmuckläden vorbeizugehen, da sie alle geschlossen hatten und ich somit nicht in Versuchung kam, etwas zu kaufen, so wie sonst immer. Ich komme an keinem dieser Läden vorbei. Jetzt konnte ich nur stehenbleiben und fasziniert beobachten, wie die Diamanten im Licht des Schaufensters in allen Farben schimmerten. Für mich ein fast hypnotisierender Anblick. Ich liebe Diamanten.

Die Stunden vergingen trotzdem wie in Zeitlupe und mein Blick huschte regelmäßig auf die Uhr, um zu gucken, wie lange ich noch durchhalten muss. Die Zeit verging nicht und ich rechnete aus, in wie vielen Stunden ich zu Hause bin oder was ich in einem Tag um diese Uhrzeit mache: Arbeiten. Morgen musste ich also unbedingt wieder zu Hause sein, denn sonst konnte ich mich auf eine Abmahnung freuen.

Immer wieder kamen mir auch andere Menschen entgegen, die nicht so verwirrt waren, wie ich. Ich hätte niemanden nach dem Weg zum Busbahnhof fragen brauchen, es hätte mir eh nicht geholfen. Die vielen Straßen und die bunten Lichter brachten mich einfach durcheinander. Überall leuchteten Lampen und die Stadt gab rauschende Geräusche von sich. Um mich herum herrschte fremde Anonymität. Ich musste alleine zusehen, wie ich klarkomme. Sehr bedrückend. 

Nach einer Weile schaltete ich mein Handy wieder ein. Es kamen einige Nachrichten an, aber nicht von meinem Fluchtort. Dort blieb es still und niemand machte sich Sorgen um mein Wohlergehen. 

Mein Navi zeigte mir an, wo ich war und wo ich hinmusste. Ich sah einen langen roten Strich, der meist nur geradeaus ging. Eigentlich nicht besonders schwierig. Ich setzte mich kurz auf eine Treppe, damit ich besser und entspannter nachdenken konnte. Auf dem Navi sah gerade alles so einfach aus und die Uhrzeit verdeutlichte mir, dass ich inzwischen schon recht lange unterwegs war. Es war fünf Uhr morgens und ich irrte bereits einige Stunden sexuell unterkühlt durch die Stadt. Mein Bus fuhr um neun Uhr. Damit war ein Ende langsam in Sicht, wenn ich es bis dahin schaffte, die Haltestelle zu finden.

Allmählich merkte ich auch, wie erschöpft ich war. Mein Bauch war leer und ab und zu machte sich ein leichtes Schwindelgefühl breit. Es fühlte sich alles so dumpf und komisch in mir an. Außerdem schwitzte ich. Auf meiner Stirn versammelten sich unzählige kleinperlige Tröpfchen. Ich war kaltschweißig und das war ein Zeichen, dass gerade alles zu viel für meinen zierlichen Körper war, dessen wertvolle Bedürfnisse ich in dieser Nacht missachtete. Ein fortschreitender Schockzustand kündigte sich an. Und mir war klar, was ich brauchte: Essen und Trinken.

Ich hatte Lust auf einen Mc Flurry von Mc Donald’s und stellte mir vor, dieses Eis jetzt in dieser Kälte zu essen. Eis im Winter, irgendwo auf einer Bank unter einer Laterne. Ich wollte nichts anderes, als das, obwohl mir kalt war. Diesen widersprüchlichen Gedanken konnte ich mir nicht erklären, da ich Kälte ansonsten nicht mochte. Aber ich hatte einfach Heißhunger auf etwas Süßes und Durst auf Milch. Wahrscheinlich war mein Kreislauf schon so zerstört, dass solche Notgelüste daraus resultierten. Ich hoffte, dass ich diese Lust bald am Busbahnhof befriedigen konnte, denn dort gab es einen Mc Donald’s, der von außen aussah, wie eine normale Imbissbude. 

Die Straßen wurden zusehends voller und der Berufsverkehr erwachte. Dadurch fühlte ich mich bald weniger allein und das beförderte mich wieder mehr ins normale Alltagsleben zurück. Auch in den Häusern sah ich Licht und es beruhigte mich, dass ich meinen Schlaf bald im Bus nachholen konnte, wenn all diese Leute zur Arbeit mussten. 

Meine zunehmende Müdigkeit und Schwäche sorgten dafür, dass ich in einem psychischen Ausnahmezustand war, der mich überreizte. Ich spürte, dass jeder neue Eindruck zu viel war und dass alles anfing, mich zu nerven. Auf einmal hasste ich diese hupenden Autos, die mit ihren Reifen auf der Straße quietschten, weil sie schnell bremsen mussten.

Der ganze Verkehr war Stress für mich und ich war mir sicher, dass ich meinen Führerschein in dieser Stadt vergessen konnte. Dieses riskante Abenteuer würde ich niemals wagen. 

Wieder schaute ich auf mein Navi und auf die Uhr. Je mehr draußen los war, umso schneller verging alles. Zum Glück war es bis zum Ziel nicht mehr allzu weit. Irgendwann nahm ich den Gehweg nur noch durch einen engen Tunnelblick wahr. Nur selten verflüchtigte sich mein Blick auf andere Personen, da ich mich sowieso unwohl fühlte, in meiner schläfrigen und verpeilten Verfassung. Aber wahrscheinlich wäre dieser Anblick auch jedem egal gewesen, da in Berlin weitaus schlimmere Gestalten herumlaufen und ich wohl noch zu den halbwegs ‚Normalen‘ zählte.

Ich näherte mich dem Busbahnhof, den ich von weitem durch Schilder erkennen konnte. Okay, jetzt konnte ich ihn nicht mehr verfehlen und spürte endlich wieder eine aufkommende Sicherheit in mir. Ich war nicht mehr verloren und mein Handyakku reichte noch für die restliche Stunde. 

Als ich dichter an den Bahnhof kam, wurde die ganze Lage wieder etwas unübersichtlich, da ich den Bahnhof zuerst mit einem anderen Gebäude verwechselte. Erst als ich vorsichtig zur rechten Seite schaute, merkte ich, dass ich auf der falschen Straßenseite war. Zu meiner absoluten Sicherheit sah ich auch schon einige Busse dort rechts an den Haltestellen stehen. Anschließend suchte ich nach einer passenden Stelle, um über die riesige Straße zu kommen. Die nächste Ampel war noch mehrere Meter entfernt. Aber Hauptsache, sie war da, denn ich hatte große Angst, erneut über die gefährliche Straße laufen zu müssen.

Ich war erleichtert, als ich mein Ziel erreichte. Mein Körper rebellierte unheimlich. Meine letzte Kraft verschwand sofort bei meiner Ankunft. Und dennoch konnte ich nicht ruhen, da ich erst wissen wollte, von welcher Stelle der Bus genau fuhr. Ich hatte nämlich keine Lust, noch länger hier sitzen zu bleiben und eine weitere Stunde zu warten.

Aber ab jetzt war alles einfach. Die Anzeigetafel und die Lautsprecheransagen waren meine Helfer und ich konnte endlich mit meinem kranken Gesichtsausdruck zu Mc Donald’s gehen. Kurz fühlte ich mich wie bei einem Arztbesuch, bei dem meine Medizin aus zwei Varianten bestand. 

Der Mc Flurry stand immer noch in der engeren Auswahl. Aber ich entschied mich spontan für einen großen Vanille-Milchshake. Das war Eis und Milch zusammen, in einem unkomplizierten Becher zum Trinken mit Strohhalm. Optimal für meinen geschwächten Körper, der jetzt nur noch eine Hand zum Halten brauchte. 

Ich stellte mich mit meinem Getränk ins Abseits und beobachtete müde das Geschehen. Allerdings konnte ich auch diesmal nicht ruhig bleiben und ging von einer Haltestelle zur anderen und verglich die Abfahrten mit der Nummer auf meinem Ticket. Dabei merkte ich, dass Abfahrzeit und Nummer nicht übereinstimmten. Aber da noch genug Zeit war, machte ich mir keine unnötigen Gedanken und setzte mich in die beheizte Wartehalle, in der ich alles exakt im Überblick hatte. Mein Blick fixierte danach fast nur noch die orange leuchtende Anzeigetafel, um keine wichtige Änderung zu verpassen. 

Zum anderen tat es gut, zwischen all den fremden Menschen zu sitzen und nicht mehr so einsam zu sein. Wahrscheinlich froren sie auch alle und kannten unangenehme Erfahrungen. Vielleicht waren sie auch gerade auf einer Flucht, denn teilweise sah es ganz danach aus.

Nach einer Viertelstunde kam die lang erwartete Ansage meines Busses und ich war happy, dass diese frustrierende Reise nun ein Ende hatte. 

Beim Einchecken gab es keine Probleme und der Fahrer heiterte mich mit seiner lockeren Art etwas auf. Wahrscheinlich war sein Leben auch nicht immer leicht. Aber alles geht weiter und manchmal auch viel besser, als vorher. Zumindest bei anderen Menschen. 

Als ich im Bus saß, spürte ich, wie mein Körper in den Sitz sackte und meine Beine kribbelten. Es war eine enorme Erleichterung, in den nächsten zwei Stunden nichts machen zu müssen und vielleicht ein bisschen schlafen zu können. Der Platz neben mir blieb frei und meine letzte Hoffnung erfüllte sich damit. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben und von niemandem mehr angequatscht werden. 

Nachdem ich wieder etwas zu mir kam, nahm ich mein Handy und löschte selbstbewusst seine Nummer. Denn ich hatte keinen Bock auf weiteren Kontakt. Für mich hatte sich die Sache nach der bescheuerten Nacht erledigt und ich wusste, dass er sich nicht ändern würde und weiterhin so verkifft blieb. Als die Nummer weg war, fühlte ich mich besser und losgelöster. Irgendwie war ich nicht einmal traurig, denn ich hatte nichts verloren.

Bessere Tipps gegen Liebeskummer 

  

Analyse

Denke an sein Leben und denke an dein Leben. War wirklich alles so toll, wie du es dir jeden Tag schönredest? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte es keine Trennung gegeben. Um es dir einfacher zu machen, stelle seine Schwachpunkte in den Vordergrund und denke vermehrt an die Dinge, die dir nicht gefielen, anstatt deinen Ex zu glorifizieren.

Archivieren

Du musst nicht gleich alle Fotos endgültig löschen oder vernichten. Bewahre sie lieber woanders auf und verschiebe sie z.B. in einen Ordner auf deinem Rechner oder lege sie in eine Kiste, die du danach versteckst. So wirst du nicht dazu verleitet, dir die Bilder mehrmals täglich anzugucken. Du solltest lernen, die Fotos zu ignorieren, weißt aber gleichzeitig, dass sie noch da sind. Irgendwann wird es dir leicht fallen, sie zu vergessen.

Vielfalt

Auch wenn du davon überzeugt bist, dass dein Ex der Beste ist – triff dich mit anderen Männern! Du kannst dich ablenken, wenn du mehrere Männer parallel datest. Der Vorteil daran ist, dass du dich nie alleine fühlst und ausreichend mit Komplimenten versorgt wirst. So ein entzückendes Dating-Chaos wird dich sicher auf andere Gedanken bringen. Vor allem, weil du dich auf ganz unterschiedliche Typen konzentrierst und die Chance hast, neue Abenteuer zu erleben.

Vergleiche

Vielleicht hat einer deiner Freunde auch gerade Liebeskummer und ist viel schlimmer dran, als du. Eine kurze Affäre tut lange nicht so weh, wie eine 5-jährige Beziehung mit gemeinsamer Wohnung, inklusive Anhängsel. Wahrscheinlich hat es dich im Gegensatz zu deiner besten Freundin gar nicht so mies erwischt, wie du zuerst dachtest. Deine Freunde können dich mit ihren Geschichten über Glück und Pech bestimmt bald aufmuntern. 

Langweiler

Du schreibst ihm und er antwortet nie. Oder er betrachtet dich mit Ignoranz, wenn ihr euch zufällig seht. Er gönnt dir nur noch seine völlige Abwesenheit. Bei ihm gibt es nichts mehr zu holen und das wird schnell langweilig. Stempel ihn als Langweiler ab, bei dem sich jede Form von Verschwendung (Gedanken + Gefühle) nicht lohnt. Es gibt spannendere Alternativen, als sinnlose Monologe, die im Nirgendwo enden. Dein Ex ist mit seinem passiven Verhalten viel zu langweilig für dich.

Mittelpunkt 

Rücke dein eigenes Leben wieder in den Mittelpunkt und kümmere dich um dich selbst. Im Moment ist nichts wichtiger, als du dir selber. Werde zum defensiven Egozentriker, der sich eine Auszeit nimmt, um sich seine Wünsche zu erfüllen und von neuen Zielen zu träumen. Du bist ein selbständiger Mensch, der es nicht nötig hat, sich von einer anderen Person abhängig zu machen, die auch selbstbewusst ihr eigenes Leben führt. Du kannst dir auch alleine ein wunderschönes Leben machen, denn du bist frei und darfst machen, was du willst.

Notfall

Wenn diese Tipps nach einer Laufzeit von ca. 12 Wochen nichts bewirken, oder sich dein emotionaler Zustand weiterhin verschlechtert, dann ist das eine kritische Phase, die sehr tiefgreifend ist. Du solltest nicht versuchen, dich mit destruktiven Mitteln zu betäuben, sondern locker bleiben und eventuell ein intimes Gespräch mit deinem Ex führen. Rede mit ihm über Sex, denn damit erzielst du schneller eine positive Reaktion, als mit deiner Heulerei. Denke immer daran, dass Männer Stress hassen und versuche, ihn mit Absicht zu vermeiden.

  

Sugar Mummy

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Sandy träumte schon lange von Veränderungen. Sie lebte jahrelang mit ihrem älteren Sohn Jan alleine im Haus und sehnte sich nun nach einer stabilen Partnerschaft. Alle Frauen in ihrem Alter waren glücklich verheiratet und hatten Familie. Bisher hatte sie immer nur Pech mit Männern und gab die Suche langsam auf. Sie passte eher in die Rolle der erfolgreichen Geschäftsfrau, in der Liebe anscheinend keinen Platz fand.
Eines Tages lernte sie jedoch endlich einen Mann kennen – im Supermarkt an der Kasse. Er stand hinter ihr und als ein Apfel vom Fließband kullerte, trafen sich ihre Blicke. Sandy hatte sich sofort verguckt und der Mann, namens Kurt, wirkte auch sehr entzückt. Die beiden trafen sich von nun an regelmäßig. Sandy hatte das Gefühl, dass Kurt sie so akzeptierte, wie sie war und seine Nähe fühlte sich gut an. Genau danach hatte sie sich so lange gesehnt.
Außerdem verstand Kurt sich super mit Jan. Aber das war noch nicht alles. Kurt hatte auch einen Sohn, der Paul hieß und in Jans Alter war. Sandy hatte damit überhaupt kein Problem. Schließlich änderte es nichts an ihren Gefühlen und Paul war wirklich nett, wenn auch ein bisschen faul. Aber das würde sich sicher noch ändern, wenn er erst einmal eine Ausbildungsstelle finden würde.
Nach einem halben Jahr war Sandy sich sicher: Kurt und sie gehörten zusammen, und zwar richtig.
Warum sollten sie es also nicht wagen, zusammenzuziehen? Immerhin war Sandy’s Haus groß genug und viele Räume standen sowieso leer und warteten auf Leben.
An jenem Abend lud Sandy Kurt zum Essen ein, um das Thema bei Kerzenlicht anzusprechen. Sie war gespannt, wie Kurt darauf reagierte. Ob er auch bereit wäre, sein Leben zu verändern?
Sandy war überglücklich, als Kurt sagte, dass er insgeheim auch schon davon geträumt hatte. Jetzt würden sie eine moderne Patchwork-Familie werden und ein ganz neues Leben anfangen.
Kurz darauf zogen Kurt und Paul auch schon in das Haus ein. Alles verlief ganz stressfrei.
Paul hatte sein Zimmer gleich neben Jans. Wobei Sandy schon schmunzeln musste, wie unterschiedlich die beiden Jungs waren. Ihr Sohn hatte viel mehr Elan, war aktiv und machte eine anspruchsvolle Ausbildung. Paul hingegen war eher passiv, einsam und hockte am liebsten vor dem Computer oder vor einer seiner vielen unterschiedlichen Spielkonsolen, von denen Sandy keine Ahnung hatte.
Am Anfang war alles spannend und aufregend, da sich Sandy und Kurt noch nach Monaten im Kennlernprozess befanden und immer wieder neue Seiten an sich fanden. Manches war positiv, manches eher negativ.
Sandys Wunsch nach Veränderung schlug mit dem Einzug von Kurt und Paul wie ein Donnerschlag ein. Auf einmal war nichts wie vorher und Sandy genoss diesen frischen Aufschwung, zuerst.
Nach und nach kehrte allmählich Routine ein, wobei die Rollenverteilung immer deutlicher wurde. Sandy war alleine für den Haushalt verantwortlich und Kurt sorgte sich um die handwerklichen Sachen. Kurt war nicht nur ein kleiner Macho, sondern ein großer. Sandy tröstete sich damit, dass Männer nun mal so sein müssen und dass sie den Haushalt ohnehin lieber alleine schmiss, bevor Kurt irgendetwas falsch machte oder nicht gründlich genug war.
Kurze Zeit nach dem Einzug wurde Kurt arbeitslos. Sandy hatte zwar einen gut bezahlten Job, aber die Situation machte ihr bald Sorgen, als sie spürte, dass Kurt die freie Zeit genoss und gerne den ganzen Nachmittag vor dem Fernseher auf der Couch schlief. Allein der Gedanke, dass sie den ganzen Tag arbeitete und er faul zu Hause seine Zeit verbrachte, machte sie innerlich wütend, denn sie verachtete Faulheit. Aber sie behielt ihre Wut für sich, um den Frieden nicht zu stören und hoffte, dass Kurt sich bald neue Arbeit suchte.
Als Sandy eines Abends nach Hause kam und in den Kühlschrank guckte, war sie fassungslos. Im Kühlschrank herrschte völlige Leere, obwohl sie vor zwei Tagen erst einkaufen war. Bis auf Butter und Milch gab es nichts mehr.
Als sie entschlossen und schnellen Schrittes in die Wohnstube lief, um Kurt energisch darauf anzusprechen, erwartete sie das nächste Szenario: Kurt und Paul schliefen friedlich auf der Couch und mittendrin ruhte der dicke Familienkater Felix von Nachbarin Kathi, der sich obendrein noch übergeben hatte.
Sandy wusste nicht, ob sie bei diesem Anblick lachen oder weinen sollte, da alles so dämlich aussah. Alle schienen satt und glücklich zu sein, nur Sandys Bauch war gefüllt mit Wut, die langsam anfing zu brodeln.
Sie würde die Herren später zur Rede stellen, bevor sie ihrem Ärger freien Lauf ließ und vielleicht überreagierte. Stattdessen beschloss sie, sich beim Einkaufen abzureagieren. Der Einkauf war anders als sonst. Sie schmiss die Ware lieblos in den Wagen und riss frustriert die Blätter vom Blumenkohl, den, außer sie, eh niemand aß, da die Männer lieber Fast Food verzehrten. Als Sandy an der Kasse stand, ließ sie ihrem Frust freien Lauf und sagte überreizt: „Ja, ich kaufe viel mehr ein als sonst. Wir haben ja auch jetzt zwei Mäuler mehr zu stopfen.“ Jan kaufte auch manchmal ein, wenn die Vorräte zu knapp wurden.
Einige Leute schauten sie voller Mitleid an, da Sandy in dem Moment pures Unglück ausstrahlte.
Als Sandy mit vollbeladenen Kofferraum wieder im Auto saß, stiegen ihr die Tränen in die Augen und ihr wurde klar, dass Veränderungen zwar interessant sein können, aber nicht immer schön sind.

Klobürstenkauf

Manche Einkäufe sind unangenehm. Vor allem die, bei denen es um die natürlichsten Dinge des Lebens geht. Dazu gehören auch die intimen Grundbedürfnisse hinter verschlossenen Türen, von denen am besten nie einer etwas erfahren sollte: Ausscheidung. Jeder tut es – keiner macht es. Zumindest nicht offiziell und schon gar nicht Frauen, weil es geheime Tatsachen sind. Denn alles, was auf der Toilette geschieht, geht niemandem etwas an. Schon gar nicht fremden Menschen. 

Aber was ist, wenn man auf einmal dazu gezwungen wird, seine Privatsphäre in der Öffentlichkeit bloßzustellen?

Früher als Teenie war es mir peinlich, als ich einmal ein Big-Pack Klopapier und Joghurt kaufte. Mehr nicht. Beim Einkaufen hatte ich mir darüber noch keine Gedanken gemacht, aber als die beiden Teile so verloren auf dem langen Fließband lagen und alle Leute vor mir nur Lebensmittel kauften, war der Anblick schon ein bisschen absurd. Mir wurde plötzlich klar, dass die Kombi aus Klopapier und Joghurt ziemlich doof gewählt war. Besonders, wenn man dabei an die Trenderscheinung Laktoseintoleranz dachte. (Nein, damals kaufte ich noch keinen Soya-Joghurt, so, wie es heute in und die Laktoseintoleranz wieder out ist.)

Ich hoffte einfach, dass den anderen Leuten das nicht auffiel und sie erwachsener dachten, als ich. Insgeheim musste ich mir außerdem sehr das Lachen verkneifen, weil es einfach nur scheiße lustig aussah, wie der Joghurt mitten auf dem Klopapier stand und auf dem Fließband ruckartig geradeaus zum Ziel fuhr.

Nach dieser Erfahrung überlegte ich genauer, wann, wie und womit ich Klopapier kaufte. Bis es mir irgendwann völlig egal wurde. Wenn ich heute andere Leute beobachte, habe ich das Gefühl, dass nie jemand Klopapier kauft. Außer ich. 

Nach Klopapier gibt es noch eine Steigerung: Klobürste. Das nächste Level der äußeren Unannehmlichkeiten. Solche Käufe gehören zu meinen aktuellsten Herausforderungen und das, obwohl ich inzwischen 10 Jahre älter bin und mir nichts mehr peinlich sein müsste.

Und heute war es soweit. Lange genug stand die Klobürste auf meiner Einkaufsliste und lange genug verzögerte ich diesen speziellen Kauf. Es war auch nicht wichtig, ich teile meine Wohnung mit niemandem und die Bürste sah noch gut aus. Sie hatte nur geringfügige Verschleißerscheinungen vom Wasser und hatte sich um eine Nuance verfärbt. Vom Rost, der es irgendwie schaffte, sich in die Kunststoffborsten zu beißen.

Schon vor einem Monat wollte ich die Klobürste kaufen. Aber da hat der Rest der Ware nicht gestimmt. Zwischen Kosmetik-Produkten und Schminke hätte sie nichts zu suchen gehabt. Das hätte nicht zum Image gepasst. Nicht zur Ware und nicht zu mir. 

Alle hätten sich wahrscheinlich gefragt, warum ich eine Klobürste brauche? Geht dieses Püppchen etwa auf Klo? Die ist ja eklig. Bäh.

Also hatte ich einen perfekten Grund, den Kauf zu verschieben und war für gewisse Zeit erleichtert.

Nun stand das beschämende Ding wieder auf meiner Liste. Diesmal wohl überlegt zusammengestellt mit anderen Produkten des Haushaltsbereichs. Ich brauchte Putzmittel gegen Schimmel, Kalk, Rost, Blutflecken, Urinsteine, Dreck, Bakterien und gegen alles, was es sonst noch im gewöhnlichen Haushalt gab. Ich brauchte das alles nur, damit die Klobürste sich optisch den Bedingungen anpasste, denn das war genau die Konstellation, in der die Bürste kaum noch auffiel. Sie wurde dadurch ein normales Mittel zum Zweck, das den Haushalt erträglicher machte. 

Trotzdem hasste ich das Gefühl, dieses Teil JETZT kaufen zu müssen. Nachdem ich mir die Bürste unauffällig in den Korb holte, ignorierte ich sie und wurde erst wieder an sie erinnert, als ich sie forsch auf das vollbepackte Fließband legte. Die Kundin vor mir kaufte Schminke. So, wie es sich für eine anständige Frau gehörte. Eine Frau mit Stil und Sinn für Ästhetik. Mir kam es so vor, als würden alle Leute hinter mir mich misstrauisch anstarren und sich fragen, ob ich pervers wäre.

– Ja, ich bin pervers und diesmal sehen’s alle. Freut euch!

Erst, als ich die neue Bürste endgültig vor den neugierigen Blicken und dem heimlichen Spott der Anderen einstecken konnte, entspannte ich mich. Es war toll, als dieser Kaufprozess endlich abgeschlossen war und ich mich in nächster Zeit nicht mehr darum kümmern musste.

Wenn ich jemanden sehen würde, der eine Klobürste kauft, hätte ich sicher auch Probleme, meine damit verbundenen Gedanken abzuschalten und ich bin froh, dass ich nicht Kassiererin geworden bin. Weil dann würde ich wahrscheinlich nicht mehr hinter der Kasse sitzen, sondern im Knast der traurigen Humorlosigkeit.

…Und wenn ich mich daran erinnere, wie ich früher als Kind von meinem Vater getröstet wurde, ist es nur noch halb so schlimm, eine Klobürste zu kaufen: „Stell‘ dir andere Menschen/Feinde auf der Toilette vor und du hast keine Angst mehr vor ihnen. Die gehen auch nur sch*****.“

Er war besoffen

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Er war besoffen und am Ende beides: besoffen und ekelhaft.

‚Ich bin in 15-20 Mins da‘, schrieb ich ihm per SMS.
‚Okay, bis gleich‘, war seine Antwort.

Ich saß im Zug und freute mich auf das Treffen. Dabei hatte ich zuerst keine Lust, weil ich müde und kaputt von der Arbeit war. Während der Zugfahrt wurde ich zum Glück wieder etwas munterer und schaute mir die verschneite Landschaft an, die im Sonnenlicht blitzte.
Als ich am Bahnhof ankam, ging ich langsamer als sonst, da ich die Winteridylle noch etwas genießen und nicht früher da sein wollte, als abgemacht. Ich hatte mich zeitlich ein wenig verschätzt, 5-10 Minuten wären exakter gewesen.

Vom Bahnhof war es nicht mehr weit zu ihm – meinem Freund (Kumpel).
Nachdem ich zwei Mal an der Tür klingelte und seinen Hund schon aufgedreht bellen hörte, machte er endlich die Tür auf. Hatte mich schon gewundert, was da los war.
Eine richtige Begrüßung gab es in dem Moment nicht, da er damit beschäftigt war, seinen nervigen Hund beiseite zu räumen. Sein Hund begrüßte mich freudig, indem er mich ansprang und mich fröhlich anschaute. Von seinem Herrchen hätte ich das mehr erwartet. Danach passierte erst einmal nichts mehr. Kaffee trinken und TV gucken stand auf dem Programm, schön gemütlich alles und sehr neutral. In einer Wohnung, in der die Heizung auch im Winter aus blieb – trotz Frauenbesuch. Ich musste mir also warme Gedanken machen und die regte ich an, indem ich die ausstehende Begrüßung einfach spontan nachholte und ihn umarmte. Er reagierte eher emotionslos und gelassen, obwohl ich das bei meinem Outfit nicht verstehen konnte. Normalerweise war das die Garantie für ein vielversprechendes Treffen. Statt mit Nähe und Geborgenheit wurde die Leere mit Gesprächen über die vergangenen Wochen gefüllt. Wir sprachen über ganz normale Dinge, als er im Sessel saß und ich neben ihm auf der provisorischen Couch lag. Er fragte mich, ob ich auch was naschen wollte. Er hatte Schokokugeln, die mit Nougat gefüllt waren. Ich mochte Nougat nicht besonders, mir war das zu cremig. Außerdem hatte ich wie immer keinen Appetit auf Ungesundes. Schokolade ging mir schon lange am Arsch vorbei. Selbst an Weihnachten. Er hingegen klagte darüber, wie sehr er über die Festtage zugenommen hatte. Er konnte schlecht damit umgehen, wenn er Süßes im Haus hatte und sah sich gewissermaßen dazu gezwungen, es zu essen. Schlimm. Mir konnte das nicht passieren. Meinen bunten Teller hatte ich immer noch und konnte mich beherrschen.
Er fragte mich, ob ich ein Glas Sekt trinken wollte und ich verneinte sein Angebot. Mir war es noch zu früh für Alkohol. Dann lieber Kaffee.

Im Laufe des Nachmittags erledigten wir einige alltägliche Dinge in der Stadt, die alle nichts mit einem romantischen Date zu tun hatten. Schließlich war es auch kein Date, sondern ein freundschaftliches Treffen, bei dem einer verknallt war und der andere nicht. Ich war diejenige, die hierbei die Arschkarte gezogen hatte. Konnte mich aber damit abfinden, wenn ich die Sache mit genug Abstand betrachtete. Sein Hund kam auch mit und drängte sich zwischen unsere Zweisamkeit.
Er besorgte sich Geld, dann holten wir sein fertiges Auto von der Werkstatt ab und danach fuhren wir billig einkaufen, denn es musste immer gespart werden. Ganz zum Schluss ging es noch in den Getränkeladen, um einen Kasten Bier für die nächste Feierlichkeit zu besorgen.
Als wir gegen Abend wieder zu Hause waren, ging es zurück auf die Couch und unter die Hundedecke, weil mir langsam kalt wurde. Das Wort ‚Heizung‘ zu erwähnen war mir zu peinlich. Die anfallenden Heizkosten hätten sein Budget gesprengt.

Abends bot er mir erneut eine Flasche trockenen Rotkäppchensekt an, von der er ein ganzes Six-Pack in der Küche stehen hatte. Das war der Rest von Weihnachten, da er selber keinen Sekt trank, sondern in hasste. Frauenkram eben.
Da ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, war mir klar, dass der Sekt diesmal besonders gut anschlagen würde. Zudem wurde mir auch klar, dass ich Sekt immer sehr gut vertragen hatte, egal unter welchen Umständen. Also trank ich ein Glas nach dem anderen. Aus Frust, aus Langeweile und auf die Hoffnung, dass der Abend nett endet. Geschmeckt hatte er mir jedoch auch. Der Sekt war prickelnd genug und das Erste, was mein Bauch an dem Tag zu sich nahm.
Wie würde es jetzt wohl weitergehen, dachte ich. Abwarten.
Er holte in der Zeit seinen konservierten Hechtkopf hervor und fing an, ihn sorgfältig mit Ölfarben anzumalen. Ich schaute weiterhin meine Lieblingssendungen im TV. Wir beide gingen unseren eigenen Beschäftigungen nach, was auch gut war. Man musste ja nicht ständig alles zusammen machen.
Meine insgeheime Frage wurde nach einer Stunde prompt beantwortet. Es kam der Vorschlag in unsere Lieblingskneipe zu gehen. Davon gab es zwei. Ich ließ mich überraschen.
Er räumte seinen Hechtkopf wieder weg, dem er die Kiemen knallrot angemalt hatte, sodass es insgesamt ziemlich unecht aussah. Auch mit der weißen Farbe auf der Unterseite hatte er zu sehr übertrieben. Der Hechtkopf sah unnatürlich und plastisch aus, bis er auf die Idee kam, die Farbe nochmals mit Terpentin zu verdünnen. Danach wirkte der Hechtkopf schon etwas echter und transparenter. Mein Vorschlag, ihn pink anzumalen, kam nicht durch. Schade, es wäre mal etwas anderes gewesen.
Nun musste die Farbe erst einmal trocknen. Wer weiß, wann mein Freund das nächste Mal Zeit für die Bemalung hatte. Irgendwie stand der Hechtkopf schon ewig in der Küche und wartete auf Vollendung. Er fing kurzzeitig sogar schon einmal an zu schimmeln. Mein Freund konnte den Prozess aber noch rechtzeitig aufhalten. Der Hecht hatte also bereits eine Menge durch.

Wir rauchten noch eine und betrachteten dabei den Hecht aus geringer Entfernung. Eigentlich wusste ich gar nicht, was ich zu dem Teil noch sagen sollte, da ich nicht nachvollziehen konnte, warum man tote Tiere anmalt und sie dann als Deko an die Wand hängt.
Anschließend ging es raus aus der Wohnung, ohne Hund. Er hatte heute genug Auslauf gehabt und schlief nur noch. Der Hund war fix und fertig, aber zum Kratzen hatte er noch genug Kraft.
Endlich wieder frische Luft! In seiner Bude hielt ich es kaum aus. Dort roch es undefinierbar nach Hund und ich hatte das Gefühl, dass auch der Geruch von Alkohol in der Luft stand. Aber ich war mir nicht sicher. Auf jeden Fall lag der Geruch nah an der Kopfschmerzgrenze bei längerem Aufenthalt. In meiner Wohnung roch es anders, meist nach Duftölen.
Draußen war es angenehm mild, trotz Winter und Schnee.
Bis zur Kneipe war es nicht weit und drinnen war es nicht gerade voll, wie man von außen erkennen konnte. Von daher war auch unser Stammplatz frei.
Direkt bei uns auf der Bank saß noch ein Typ. Mein Freund fragte, ob wir uns dazusetzen durften. Die beiden kannten sich von irgendwoher flüchtig und fingen gleich ein Gespräch über das Gitarrespielen an. Dort konnte ich mich leider nicht einmischen, da ich keine Ahnung davon hatte. Mein bestelltes Bier kam erst nach einigen Minuten, sodass ich mich kaum ablenken konnte. Aber die Zigaretten taten dafür in der Zwischenzeit ihr Bestes.
Nachdem mein Bier endlich kam, rauchte und trank ich gleichzeitig. Ich versuchte mit Absicht cool zu wirken, im Halbdunkel der Kneipe. Im Hintergrund lief die ganze Zeit Rockmusik, die meine Grundstimmung unterstützte: Sex, drugs and rock’n’roll. Nur war von Sex momentan nichts zu merken, da auch ans Küssen nicht zu denken war. Unbewusst strahlte mein Freund Lustlosigkeit aus. Ich bemerkte die blaue Lichterkette über ihn.
„War die letztes Mal auch schon da?“, fragte ich und deutete mit dem Blick an die Decke.
„Nein, die ist wohl neu“, antwortete mein Freund und fand auch ein wenig Interesse an der Beleuchtung. Sie schimmerte so schön blau.

Irgendwann unterhielt sich der Typ neben mir mit anderen Leuten, da ihm wohl klar wurde, dass er uns auf eine Art störte. Ich war froh, dass wir nun unsere Ruhe hatten und uns angetrunken unterhalten konnten. Diese Gespräche sind oft sehr ehrlich und sinnvoll, da es immer darum geht, warum wir uns eigentlich treffen.
Er dachte jedes Mal, dass das keine gute Sache wäre. Weil ich verknallt war und er nicht.
Aber wir mochten uns trotzdem.
Er sagte: „Du quälst dich doch nur selber, wenn wir uns treffen. Das ist nicht gut und ich fühl mich auch nicht wohl dabei.“
„Doch, ist schon okay. Schließlich kann ich das selber entscheiden. Für mich wär’s schlimmer, wenn wir uns gar nicht mehr sehen würden. Dann lieber so wie jetzt. Auch, wenn’s nicht richtig ist. Nichts ist richtig bei uns“, antwortete ich schnell. Dabei wusste ich selber, dass das alles hier nicht in Ordnung und dass es für ihn auch nicht gerade leicht war.
Dann fragte er mich:“Was wäre, wenn ich jetzt eine Frau treffen würde, die mir gefällt und ich sie hier vor deinen Augen ansprechen würde?“
Tja, scheiß Frage, dachte ich.
„Natürlich wäre das scheiße, was sonst?“, sagte ich genervt. „Das kannst du machen, wenn du alleine bist, aber nicht, wenn ich zu Besuch bin.“
Danach stellte er mir noch einmal diese Was-wäre-wenn-Frage. Da wurde mir bewusst, dass das tatsächlich passieren konnte und ich nicht einmal ein Recht darauf hätte, ihn davon abzuhalten, andere Frauen anzuquatschen, die ich nicht toll fand.
Trotzdem wollte ich daran nicht denken. Unsere anderen Treffen liefen auch alle entspannt ab, ohne solche Fragen und ohne Dates, die nebenbei liefen.
Natürlich konnte er machen, was er wollte. Ich war nicht seine Freundin und hatte keinen Anspruch auf ihn. Selbst meine Bedürfnisse musste er nicht befriedigen.
Es gab immer nur diese eine Antwort auf alles: Wir beide waren kein Paar und eine normale Freundschaft war es auch nicht, wenn wir im Bett landeten. Es war viel mehr ein Gefühlschaos, das ich mir selber eingebrockt hatte, weil ich wahrscheinlich irgendwie masochistisch veranlagt war oder was auch immer. Sonst hätte ich mir so etwas wohl nicht angetan. Welche normale Frau ließ sich so von ihren Gefühlen herunterzuziehen und ausnutzen.

Unsere angetrunkenen Gespräche hatten also immer den gleichen armseligen Inhalt.
Die Sache mit uns und der damit verbundenen Hoffnungslosigkeit, die ich mittlerweile einigermaßen akzeptieren konnte.
Jedes Mal erklärte er mir ausführlich, dass sein Bauch gegen mich war und dass er keine Macht gegen seine Gefühle hatte. Sein Bauch sagte nein und er glaubte ihm fromm. Sein Bauch hatte mehr Macht als sein Herz und sein Gehirn. So kam es mir vor. Das Schlimmste war, dass es danach aussah, als hätte sein Bauch seinen Verstand komplett verloren.
Aber ich akzeptierte es, was blieb mir anderes übrig. Seine Meinung stand fest. Meine Vorteile konnten ihn nicht überzeugen. Jedes Mal erklärte ich ihm, dass andere Frauen ihn und sein Leben nicht tolerieren könnten und zählte dabei jeden einzelnen Grund auf, warum es mit anderen Frauen auch nicht funktionieren konnte. Ich fand meine Erklärungen gut gelungen und sehr überzeugend. Vor allem war jeder Punkt nachvollziehbar und insgeheim wusste er vielleicht, dass ich recht hatte.
Aber weil sein Bauch trotz allem nein sagte, blieb er eisern bei seiner Meinung. Schließlich hatte er genug schlechte Erfahrungen mit Frauen gesammelt. Diesmal wollte er vorsichtiger sein und lieber gleich auf sein Gefühl hören, bevor alles zu spät war. Er wurde schon zig Mal verlassen.

Ich trank nach dem Gespräch artig mein Bier aus ohne zu heulen.
Die Tränen wären umsonst gewesen, von denen gab es in den letzten Wochen schon genug. Ich konnte nicht immer wegen der gleichen aussichtslosen Sache heulen.
Als ich mein zweites Bier bestellte, ließ ich es mit Sekt mischen. Ich brauchte das.
Danach folgten wieder anstrengende Gespräche über Liebe, Zukunft und Familie. Wir schafften es nie, uns über andere Dinge zu unterhalten, da ich noch zu viele offene Fragen hatte, deren Antwort ich eigentlich längst wusste, wenn ich in mich hineinhorchte und mir eingestand, dass wir doch sehr unterschiedlich waren, was gewisse Wünsche anging.
Es waren lange Gespräche, über die Hoffnung, dass alles besser wird. Wirklich alles. Nichts ist zu spät, alles ist möglich. Ich hörte Sätze, die mir bekannt und egal waren, da ich das alles selber wusste. Dennoch konnte ich damit nichts anfangen. Meine Sturheit war einfach stärker, obwohl mir klar war, wie recht er mit jedem Satz hatte. Ich wollte es nur nicht hören, weil ich ihn wollte, anstatt mit jemand anderem glücklich zu werden, der viel besser zu mir passte.
Ich hatte mich so in meinen Freund festgebissen, dass ich nicht mehr loslassen wollte. Dabei war mir völlig klar, dass es noch viel bessere Typen da draußen gab. Ich musste sie nur finden, oder sie mich und das war keine leichte Angelegenheit.

Nun waren auch die Zigaretten im Big-Pack alle, das wir uns beide teilten, weil er keine gekauft hatte. Mein Sekt-Bier stieg mir langsam zu Kopf und ich wollte es nicht mehr trinken. Ich wusste genau, wann Schluss ist und ich war für keinen weiteren Schluck bereit. Das Glas war noch fast voll. Er hingegen trank wohl schon sein 5. Bier. Ich hatte nicht mehr gezählt, weil das Trinken bei ihm schnell ging.
Kurz nach Mitternacht schlug er vor, noch in die andere Kneipe zu gehen. Ich fand es schon sehr spät und hatte eigentlich ganz andere Gedanken. Ich wollte nach Hause, sagte aber nichts. Er wäre sicher nicht begeistert gewesen. Ich ließ Sekt-Bier stehen, denn er hasste dieses Zeug und konnte mir nicht beim Austrinken helfen. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich es nicht bestellt hätte.
Trotzdem war ich bereit, der Bedienung noch genug Trinkgeld zu geben. Dann gingen wir raus in die Nacht. Auf der Straße war nichts mehr los.
Ich war etwas wackelig auf den Beinen und meine Zunge war beim Sprechen schon ziemlich lasch. Aber ich hatte noch alles perfekt unter Kontrolle, weil ich mir Mühe gab.

Die nächste Kneipe befand sich in einer anderen Nebenstraße, die nicht weit entfernt war. Dort war bisschen mehr los.
Ich sagte gleich, dass ich nur einen Orangensaft will, da ich keinen Bock mehr auf Alkohol hatte. Er bestellte dagegen sein nächstes Bier. O-Saft wurde dort bestimmt sehr selten bestellt.
In der Kneipe war es bequem, überall standen alte Polstermöbel und abgewetzte Sofas. Vergilbte, angerissene Tapeten an den Wänden und viel Ramsch, der schon einige Jahre hinter sich hatte und teilweise unvorteilhaft im Weg stand. Man konnte sagen, es wirkte schäbig und möhlig. Es war eben eine sehr alternative Kneipe und ich fühlte mich zumindest wohl auf dem Sofa. Die Kerzen waren in Flaschen gesteckt und der mit leeren Bierflaschen zugestellte Tisch vom Vorgänger wurde noch nicht aufgeräumt. Dem Betrieb war das anscheinend egal, da wurde nicht besonders auf Regeln und Sauberkeit geachtet. Voller Aschenbecher? Kümmer‘ dich selber drum!
Ich hatte nichts dagegen, denn ich hatte diesen Laden nie anders kennengelernt. Von dem Flair war auch ich sehr angetan. Es war eben eine Kneipe, die ich sympathisch fand, weil sie nicht perfekt war.

Kurz nachdem wir uns auf das Sofa in der Ecke setzten, bekamen wir schon Besuch von einem Typen, der völlig drüber war und binnen weniger Minuten seine ganze verkorkste Lebensgeschichte erzählte, ohne dass es ihm peinlich war. Er merkte nicht, dass seine Anwesenheit unsere Zweisamkeit enorm störte. Der checkte gar nichts mehr, sondern erzählte ohne eine Pause zu machen eine Story nach der anderen. Wir fragten uns, was der wohl genommen hatte? Mit Sicherheit war es nicht nur Alkohol. Der fremde Typ war überdreht und verrückt, wie man an seiner Mimik und Gestik unschwer erkennen konnte. Wir bekamen von ihm auch Getränke und Zigaretten spendiert, einfach so, weil er nicht ganz dicht war.
Er sagte mir, er hätte einen Psychiatrieüberweisungsschein vom Arzt bekommen und fragte, ob ich ihm ein paar Tipps geben könnte. Beruflich ja, aber privat wollte ich mit solchen Problemen nicht allzu viel zu tun haben. Noch ehe ich antworten konnte, erzählte er schon andere Dinge und schweifte ab.
Seine Klopausen nutzten wir, um uns über private Dinge zu unterhalten und darüber zu lästern, wie dämlich sich der Typ benahm. Leider kam er jedes Mal zu schnell zurück und nervte uns weiter. Wir ließen uns das sehr lange gefallen. Bis der nächste verrückte Typ dazu kam, der wie eine Kopie des anderen wirkte. Wir wussten nicht, ob die beiden sich kannten. Der neue verrückte Typ war sogar noch härter und prahlte, wie viele Strafen er hatte und zwischendurch auch im Knast saß. Dieser Typ geizte auch nicht mit Komplimenten, die an mich gerichtet waren. Ich ging nicht weiter darauf ein, sondern grinste ihn nur gespielt an. Wahrscheinlich machte er jede Frau mit den gleichen Sprüchen an, da sie altmodisch nach Standard klangen.
Auf die die Frage:„Wie heißt du?“, entgegnete ich zickig: „Geht dich nichts an.“
Ich wollte meine Ruhe haben und nicht mit kranken Männern flirten, die notgeil waren.
Mein Freund hingegen machte kein Geheimnis aus seinem Namen.

Die beiden Verrückten verwickelten meinen Freund in komplizierte Gespräche, in denen es um Hartz IV und aktuelle Lebenssituationen ging. Anspruchsvolle Themen im betrunkenen Zustand. Ich hatte Angst, dass das ausartet und sich mein Freund um Kopf und Kragen redet. Er versuchte sich zu rechtfertigen, obwohl er das gar nicht nötig hatte. Vor allem ging das niemandem etwas an, wie mein Freund bisher in seinem Leben scheiterte. Er erzählte ihnen einige private Dinge aus seinem Lebenslauf. Ich fand es traurig und musste ohne Worte zugucken. Mir wurde das alles unangenehm und ich spürte, wie ich diesen Abend immer bescheuerter fand. Es kam mir vor, wie in einem Alptraum. Ich war mit einem Freund verabredet, damit wir uns einen schönen Abend machen konnten und andauernd wurden wir von verrückten Fremden, die nicht alle Tassen im Schrank hatten, gestört und angeflirtet. Es konnte nicht wahr sein. Vor allem diese dämlichen Gespräche die ganze Zeit. Ich war wenigstens so schlau, nicht darauf einzugehen.

Als es meinem Freund endgültig zu viel mit den beiden wurde, schlug er vor, dass wir nach vorne an den Tresen gehen. Ich fand die Idee gar nicht gut, da es dort voll war und man nicht sitzen konnte. Die Leute standen alle eng aneinandergequetscht am Tresen, der in einer Ecke endete und ich hatte keine Lust darauf, mich dort auch noch hineinzustopfen und keinen Platz zu haben. Ich hasste sowas! Aber ich ließ nach und ging mit ihm dort hin, obwohl ich mir gewünscht hätte, nach Hause zu gehen, da es fast halb drei war. Wie sollte es hier noch weitergehen? Warum wollte er unbedingt zum Tresen?

Ich stand doof herum und mein Freund fand schnell Anschluss unter all den anderen Betrunkenen. Er traf einen Bekannten und die beiden starteten eine angeregte Unterhaltung. Mein Freund war angetrunken genug, um seinen Kumpel zu erzählen, wie sympathisch er ihn fand und all solchen Kram. Nebenbei hörte ich die Worte ‚Frauen‘ und ‚Verkupplung‘ heraus und merkte, dass es hier um Sachen ging, die ich nie hören wollte. Obendrein wurde ich in meiner Anwesenheit gar nicht mehr beachtet und kam mir vor, als wäre ich gerade nicht gewollt. Ich beobachtete diese Situation noch ungefähr zwei Minuten, bis ich mich kurz und knapp mit ‚ich gehe‘ verabschiedete. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Ich hatte schon Minuten davor mit diesem Gedanken gespielt, hatte mir aber eingeredet, mich zusammenzureißen und nicht überzureagieren. Es klappte nicht, weil ich innerlich platzte.
Ich ging einfach, dabei hatte ich nicht einmal meinen O-Saft bezahlt. Mein Freund würde das schon übernehmen. Wer sonst. Die Apfelsaftschorle hatte mir ja der andere Typ spendiert. Hoffentlich wusste er es noch.

Ohne einen Schlüssel zu haben ging ich nach Hause.
Natürlich war ich der Meinung, dass mein Freund mir gleich folgen würde. Auf dem Weg nach Hause dachte ich an gar nichts mehr. Ich war völlig leer und ging wie apathisch durch die ausgestorbene Fußgängerzone. Nicht einmal weinen konnte ich, da ich nichts mehr spürte. Ich merkte nur, wie der Wind an meinen Beinen entlangzog und sah das fahle Licht der Laternen.
Als ich zu Hause ankam, setzte ich mich auf die kalte Steintreppe vor der Tür, wie ein ausgesetzter Penner. Ich trug nur eine dünne Strumpfhose und Hotpants. In meiner dunkelgrünen Winterjacke sah ich äußerlich aus wie eine Tanne und sie wärmte mich auch so. Ich konnte nicht behaupten, dass mir kalt war. Nach einer Weile zog ich meine Handschuhe an, was sollten die auch länger nutzlos in der Tasche bleiben. Die Kälte des Bodens zog sich allmählich durch die Sohle meiner Boots und ich fing an, leicht zu frösteln. Aber richtig kalt war mir immer noch nicht. Hin und wieder hörte ich Schritte durch die Straßen hallen, es kam aber nie jemand in meine Nähe.
Ob mich jemand aus dem Haus von gegenüber beobachtete? Mir war es egal. Sollten die anderen Leute denken, was sie wollten. Wahrscheinlich sah mich niemand, um die Zeit schliefen alle.
Dennoch schaute ich mich suchend nach anderen Menschen um. Aus manchen Fenstern brannte noch Licht. Ansonsten herrschte überall Stille.

Ich hoffte, dass mein Freund bald auftauchen würde und schaute andauernd auf die Uhr, während die Zeit kaum merkbar voranschritt. Es konnte doch nicht sein, dass er sich keine Sorgen macht? Ich rechnete in jeder Minute mit ihm und versuchte, ob ich seine Stimme aus der Ferne hören konnte. Aber nie war es seine, obwohl ich mir das eine Mal fast sicher war.
Normalerweise hätte er längst da sein müssen. Er wusste doch, dass ich nicht woanders hinkonnte und keinen Schlüssel hatte. Wie konnte er mich nur so lange sitzen lassen und mich vergessen?
Ich wartete ungefähr eine Stunde in der Kälte und versuchte ihn zwei Mal anzurufen, wobei ich jedes Mal das Angebot bekam, mit seiner Mailbox zu sprechen. Eine Stunde hatte ich auf der Treppe gesessen, ich konnte es kaum glauben, denn es kam mir gar nicht so lange war. Das lag wohl daran, dass ich selber nicht völlig nüchtern war und sich mein Empfinden verändert hatte.
Mir reichte es. Das war respekt- und rücksichtslos, mich alleine in der Kälte stehen zu lassen! Sicherlich war das meine eigene Schuld, da ich einfach abgehauen war, aber es gab einen Grund dafür. Ignoranz und zerstörerische Themen, von denen ich nichts wissen wollte. Welche Frau würde sich so etwas antun?

Ich beschloss, dass ich wieder zurück in die Kneipe musste.
Hier draußen hatte ich nichts mehr verloren und er würde wahrscheinlich nicht von alleine nach Hause kommen. Also ging ich durch die ganze Stadt und suchte diese verdammte Kneipe, wobei ich mich nicht genau daran erinnern konnte, wo sie war. Mir wurde wieder wärmer, als ich mich bewegte. Ich lief schnellen Schrittes einige Seitenstraßen ab und suchte auf der Straße nach bunten Lichtern, die sich vor der Kneipe befanden. Aber sie waren nirgendwo zu sehen. Vielleicht leuchteten sie nicht die ganze Nacht. Ich lief die Straßen auf und ab. Letztendlich folgte ich meinem Bauchgefühl und bog in eine ganz andere Straße ein. Mehr Möglichkeiten gab es nicht mehr.
Nachdem ich ungefähr zwanzig Minuten nervös gesucht hatte, fand ich endlich diese beschissene Kneipe und sie war noch geöffnet. Hoffentlich war mein Freund noch da, denn es wäre blöd gewesen, wenn wir uns verfehlt hätten.
Ich hatte keine Ahnung, was mich dort drinnen erwarten würde und ging mit einem flauen Gefühl in diesen Laden, der inzwischen wieder richtig voll geworden war.
Was ist in dieser einen Stunde passiert?
Wo kamen all diese Leute auf einmal her?
Es war mitten in der Nacht und in dem Laden war mehr Stimmung, als je zuvor. Ich schaute in der Menschenmenge am Tresen nach meinem Freund und sah ihn ganz versteckt in der Ecke stehen, umzingelt von anderen Leuten. Er sah mich wohl auch gleich. Ich drängte mich wütend durch die Enge und mir war es egal, wen ich dabei anrempelte. Pech, wenn kein Platz war, aber ich musste durch. Was mussten die da auch alle dicht an dicht stehen.

Ich sah, dass er sich mit einem anderen Mädel unterhielt, das am Tresen saß und er nahm einen Zug von ihrer Zigarette, warum auch immer. Sie trug eine hellblaue Jeans, eine schwarze Sweatjacke und eine schwarze Mütze auf ihrem blonden Kurzhaarschnitt. Sehr lässig. Und sie hatte ein hübsches Gesicht, mit einem lieblichen Ausdruck. Ganz entzückend.
Das Mädel hatte jedoch noch mehr Flirtpartner an jeder Seite, wirkte aber nicht allzu interessiert daran. Als ich bei meinem Freund ankam, fragte er mich nur, wo ich war und ich sagte, dass ich draußen vor der Tür herumgesessen hatte und jetzt nach Hause wollte – schon seit zwei Stunden. Laut seiner Aussage war er mir noch kurz hinterhergelaufen, als ich abhaute und ist dann wieder zurück in die Kneipe gegangen, weil es dort schöner war, als zu Hause im Bett.
Da er nichts kapierte, fragte er mich gleich noch einmal danach, ob ich nach Hause will. Das passierte noch einige Male und meine Antwort kam nicht im geringsten zu ihm durch, weil sein Hirn schon voll mit Alkohol und er verballert war. Irgendwann ist jedes Bier ein Bier zu viel. Ich schätzte, dass er inzwischen schon zwölf Biere intus hatte.

Ich stand die ganze Zeit neben all den anderen Leuten angepisst neben ihm und zog eine Fresse, die jeden vernichtete. Als er sah, dass ich nicht glücklich war, zupfte er zuerst ein paar Mal an meiner Mütze, bevor er sie mir vom Kopf zog und stupste mich liebevoll mit seinem Arm an. Das Stupsen wurde nach und nach immer stärker. Ich ignorierte all diese Zeichen und hasste es umso mehr, dass er nichts mehr merkte.
Die Musik wurde immer lauter und die anderen Leute grölten wie bekloppt und schrien zudem auch noch wie grunzende Schweine. Ich war wahrscheinlich die Einzige, die in diesem Laden noch nüchtern war und die Sache mit Abstand neutral beobachten konnte. Irgendwann wurde ein Sex-Song aus der Anlage geschossen, der alle noch einmal richtig ausrasten ließ. Ein besoffenes Mädel stieg auf den Tresen, zusammen mit einem Typen, der eventuell ihr Freund war und machten sich dort komplett zum Affen, wobei sie nicht die einzigen Affen waren, denn der ganze Laden war voll von ihnen. Mein Freund stand mit einer neuen Flasche Bier in der Hand still da und guckte heimlich zu, wobei er an meiner fiesen Fresse nicht vorbeikam. Mir konnte niemand ein Lächeln von den Lippen locken, ich zog mein Ding durch, die Stimmung wenigstens ein bisschen zu verderben und die Aufmerksamkeit meines Freundes auf mich zu ziehen. Wie konnte er nur dabei zu sehen, wie es mir immer schlechter ging? Warum konnte er nicht endlich einsehen, dass jetzt Schluss war?

Dann brodelte es wieder in mir und ich lief durch die Masse Richtung Ausgang. Im gleichen Moment wurde mir bewusst, dass ich das vorhin schon einmal gemacht hatte und dass es keine Chance gab, woanders hinzugehen. Ich wollte nicht wieder draußen in der Kälte ausgesetzt auf einer Treppe hocken und alleine sein. Mist.
Also stopfte ich mich wieder zurück durch die Menge, während mein Freund mit der hübschen Frau redete. Bei dem verletzenden Anblick quetschte ich mich prompt wieder Richtung Ausgang, weil ich keine Ahnung hatte, was ich machen und wie ich damit umgehen sollte.
Auf halbem Weg nach draußen ging wieder zurück, weil ich leider keine andere Wahl hatte.
Die anderen Gäste zeigten mir deutlich, dass ihnen dieses Durchgequetsche und Geschubse langsam auf die Nerven ging. Aber mich störte es nicht, wir kannten uns alle nicht und ich konnte mich so daneben benehmen, wie ich wollte. An diese Nacht konnte sich eh niemand mehr erinnern.

Dann stand ich wieder machtlos neben ihm.
Mir reichte das alles dermaßen, dass ich ihn erneut darauf ansprach und ihn fast darum anflehte, endlich abzuhauen, es war schon spät. Ein bisschen drang zu ihm durch und er sagte:„Ich bring dich nach Hause.“
Er ging mit mir Richtung Tür, nahm aber nicht seine Jacke mit.
„Und was ist mit dir? Du musst deine Jacke doch noch mitnehmen! Mann!“
„Ich komme nachher nochmal wieder, ich bring dich jetzt nur nach Hause und dann komm ich wieder her.“
Ich sah ihn mit großen Augen an und wollte ihn fast anspringen.
„ Du kannst mich doch jetzt nicht alleine zu Hause lassen? Wir beide waren heute verabredet und ich war dein Besuch! Das kannst du doch jetzt nicht machen?! Du kannst mich doch jetzt hier nicht so stehen lassen? Dauernd ignorierst du mich!“, und ich brach in Tränen aus.
„Ich will aber noch hier bleiben und Spaß haben. Ich will noch nicht nach Hause“, sagte er, wobei er sein Gleichgewicht kaum noch halten konnte, und nach hinten kippte.
„Du kannst doch gar nicht mehr richtig stehen! Guck dich doch mal an, du bist total dicht!“
Seine Augen waren schon ganz klein und er hielt sie beim Sprechen geschlossen, weil das alles anstrengend war.
„Ich will aber noch hier bleiben.“

So ging unser Gespräch mindestens fünfzehn Minuten. Es war sinnlos und deprimierend.
Mir schossen immer mehr Tränen in die Augen, weil ich sein Verhalten nicht verstehen konnte. Noch nie hatte er sich bei einem unserer Treffen so verhalten. Inzwischen war es halb fünf und es wäre Zeit gewesen, dass wir beide nach Hause gehen. Aber er wollte noch Spaß haben und trinken.
Noch mehr! Wie viel wollte er noch trinken, wenn jetzt schon nichts mehr ging?
Dann kam einer dieser verrückten Typen von vorher auf uns zu, weil er sah, dass wir Stress hatten und erklärte meinem Freund, dass er mich gefälligst nach Hause bringen soll. Er versuchte, auf ihn einzureden, aber erklärte auch deutlich, dass er sich nicht weiter in unsere Beziehungsangelegenheiten einmischen wollte. Er dachte immerhin, dass wir ein Paar wären, das Streit hat. Danach machte er sich mit einem Kompliment an mich langsam vom Acker.
„Deine Augen sind echt gefährlich“, sagte er mir zum vierten Mal.
Ich zeigte wütend auf meinen Freund und sagte: „Er ist an allem Schuld“, und schubste ihn.
„Sorry, was immer da gerade passiert, regel das, mein Freund. Ich kann Frauen nicht weinen sehen“, war sein letzter Satz. Danach war der verrückte Typ weg und stellte sich an den Tresen.

Mein Freund ging anschließend mit mir nach draußen, wir hatten uns lange genug drinnen angefaucht, sodass es alle mitkriegen konnten. Auf der Straße ging der selbe Alptraum weiter. Er hatte keine Einsichtsfähigkeit und ich versuchte ihm die Situation deutlich zu schildern. Ich wurde dabei sehr laut und teilweise ungehalten, aber es kam bei ihm nichts durch. Er merkte nicht, wie daneben er sich insgesamt verhielt.
Weitersaufen, obwohl schon längst das Maß überschritten war.
Weitersaufen, obwohl er eigentlich keine Kohle hatte und das Geld für andere wichtige Dinge brauchte.
Weitersaufen, obwohl er kaum noch vernünftig stehen und sprechen konnte.
Was hatte das alles mit Spaß zu tun? Eine Frau, die er im betrunkenen Zustand kennenlernen würde, wäre am nächsten Tag wieder Geschichte, da Betrunkensein mit der Realität nichts zu tun hatte. Alles nur Scheinwelt und noch mehr Probleme.

„Ich hatte mir den Abend anders vorgestellt und nicht so beschissen“, schrie ich ihn wütend an, „so scheiße hast du dich noch nie verhalten. Du merkst echt gar nichts mehr. Guck dich doch mal an! Das ist total erbärmlich!“
Er stand regungslos vor mir mit einem gleichgültigen Gesichtsausdruck.
„Ich will aber noch feiern! Spaß haben, da ist Stimmung.“
Als er immer wieder den selben Satz sagte und sich unsere Gespräche nur im Kreis drehten, gab ich endgültig auf und wusste, dass ich nicht erwünscht und völlig umsonst hier war. Ich war enttäuscht, so von ihm missachtet zu werden. Keine Spur von Sozialkompetenz und Empathie. Er war völlig anders, als er vorgab, zu sein. Wahrscheinlich war er mehr besoffen, als nüchtern, da die Kneipe sein Lieblingsort war. Ein Ort der Täuschung, nichts Wahres.

Ich war wütend und traurig auf ihn, aber ich konnte mich nicht ständig wiederholen.
„Entweder gibst du mir jetzt den Schlüssel oder du kommst mit“, sagte ich entschlossen.
„Wenn ich mich drauf verlassen kann, dass du mich nachher reinlässt und nicht einfach abhaust, dann ja.“
Ich wurde immer lauter:„Ich würde gerne sofort abhauen. Komm doch einfach mit jetzt, du Arschloch!“, und stampfte dabei mit den Füßen auf den Boden wie ein kleines Kind.
Schon blühte die Diskussion erneut auf.
„Nein“, sagte er emotionslos.
„Ich hasse besoffene Männer, die sind echt zum Kotzen. Ich hätte echt nie gedacht, dass du genauso scheiße bist. Du bist echt zum Kotzen. Und jetzt gib mir den ollen scheiß Schlüssel!“
Er war so betrunken, dass es ihn nicht mehr störte, wie ich ihn beleidigte und anschrie. Ich war sogar kurz davor, ihm eine zu knallen. Wäre das besser gewesen? Vielleicht hätte das ein bisschen geholfen, um ihn wach zu kriegen.
Während unseres Streits wurde er am Anfang eines Wortes kurz laut, um seine Macht kurzzeitig zum Ausdruck zu bringen. Danach wurde er wieder gleichgültig in seinem Suff, leise und fast stumm. Ich konnte ihn mit meinen vernichtenden Worten nicht erschlagen und kränken. Wäre er nüchtern gewesen, hätte er sich das niemals gefallen lassen und hätte sich dagegen gewehrt.
Dann gab er mir den Schlüssel und ging wankend zurück in die Kneipe.
An seinem Schlüsselbund hing ein kleines Sorgenfresserplüschtier. Das hatte vorne am Maul einen Reißverschluss und sollte symbolisch all die Sorgen fressen, die man hatte. Wahrscheinlich war dieses Plüschtier längst tot, bei solch gravierenden Sorgen, die mein Freund hatte.
Wieder einmal überkam mich Mitleid.

Die Polizei fuhr im Schneckentempo durch die Fußgängerzone und ich hoffte, dass sie mich nicht aufhalten würden, weil meine Schminke so verwischt war und ich fertig aussah. Ich blickte extra auf den Boden, damit mich niemand sieht.
Ja, ich war mit den Nerven am Ende. Schließlich hatte in der vorigen Nacht nur zwei Stunden geschlafen, nichts gegessen und mich nur im Toleranzbereich betrunken. Ich hatte die Schnauze voll und wollte, dass alles endlich zu Ende ist und ich wieder nach Hause fahren konnte. Die Bullen hätten meinen Freund mal mitnehmen sollen, dachte ich.

Als ich in seiner Wohnung war, atmete ich gleich wieder diesen unangenehmen Geruch ein. Was war das nur?
Dann kam sein Hund bellend auf mich zugerannt und ich stieß ihn abrupt mit dem Fuß weg. Er war das Letzte, was ich jetzt wollte. Oller Köter. Ich hatte nur wenig Liebe für ihn übrig, da er zu der Sorte gehörte, die jeden gleich anbellte und belästigte. Der Hund war ungezogen und böse veranlagt. Ich sperrte ihn in die Wohnstube, damit er mich in Ruhe ließ und nicht mit ins Bett konnte, so, wie er es sonst gewohnt war. Tiere im Bett gingen gar nicht. Er roch nicht gut und kratzte sich ständig wie besessen. Aber das Geld für einen Tierarztbesuch fehlte nun mal und der Hund musste darunter leiden.

Eigentlich wäre ich gerne Baden gegangen, um mich aufzuwärmen. Zu Hause hatte ich leider keine Wanne. Aber da ich nicht wusste, wann mein Freund kommt, ließ ich es sein. Ich zog meine aufreizenden Klamotten aus und holte mein nächstes Outfit aus dem Rucksack. Eine wärmende schwarze Cordhose, auf der man gut die weißen Haare des Hundes erkennen konnte, die überall herumlagen und einen weichen grauen Wollpullover mit bunten Pailletten. In meinem kurzen Schlafsachen hätte ich nur noch mehr gefroren. Normalerweise hätte ich gehofft, dass ich jetzt jemanden zum Kuscheln gehabt hätte. So war das eigentlich auch geplant.
Ich ging noch schnell ins Bad und schminkte mich ab, obwohl ich keine Lust hatte, mir die Wahrheit im Spiegel anzugucken. Ich sah blass und traurig aus. Die Haare lagen auch scheiße. Alles an mir wirkte enttäuscht und gestresst. Egal, mich sah sowieso keiner mehr. Dann legte ich mich auf die karge Matratze auf dem Fußboden, denn ein richtiges Bett gab es nicht.
Viele wichtige Dinge fehlten in seiner Wohnung. Das meiste war vom Sperrmüll oder alte Möbel von der Ex-Ex-Freundin, die kaputt waren. Auch der Lichtschalter war mit Klebeband lose an der Wand befestigt und machte den Eindruck, dass man ihn lieber nicht benutzen sollte.
Nichts war in der Wohnung perfekt. Nicht mal abwaschen konnte man in der Spüle, da etwas mit der Wasserleitung nicht stimmte und somit nicht funktionierte. Also wurde das winzige Waschbecken im Bad für den Abwasch missbraucht. Das Geschirr wurde dabei auf dem Klodeckel abgelegt. Alles sehr hygienisch. So what, mir war das ziemlich egal, anfangs. Ich hätte sein Leben schließlich komplett verändern können. Alles wäre mit mir anders und schöner gewesen. Aber er hatte mich abgelehnt und somit würde sein Leben vorerst so bemitleidenswert bleiben.

Ich legte mich erschöpft ins Bett und zog mir die zerlöcherte Decke über den Kopf, die der Hund in seinen Wahn zerbissen hatte. Mir war kalt, trotz der warmen Sachen und mein Kopf tat weh. Ich wusste, dass die Kopfschmerzen von dieser blöden Kneipe kamen und von der fast ausgetrunkenen Flasche Sekt am Abend. Die Kopfschmerzen waren zwar mild, aber sie störten mich trotzdem. Bei jeder Bewegung, die ich langsam ausführte, entwickelte sich ein leichter Schwindel. Ich war froh, nicht mehr getrunken zu haben, denn sonst wäre es mir jetzt richtig schlecht gegangen.
Schlafen konnte ich nicht. Ich sah ständig auf die Uhr und wartete, bis mein Freund kam. Irgendwann musste dieser Laden doch auch mal dicht machen. Sonst hatten die auch schon eher geschlossen und uns einmal fast herausgeworfen, weil wir um eins die Letzten waren. Nur diesmal waren die Inhaber selber zu besoffen und hatten Spaß an der ausschweifenden Stimmung.

Ich hatte nur noch einen einzigen Gedanken: Wann fahre ich nach Hause? Schnell überprüfte ich mit dem Handy die Zugverbindungen und musste mich zwischen Ausschlafen mit Wohlbefinden oder Abhauen mit Unwohlsein entscheiden.
Am liebsten hätte ich ausgeschlafen, da ich es jedes Mal übel fand, mit körperlichen Beschwerden nach Hause zu fahren. Dazu gehörten meist Übelkeit, Kopfschmerzen und starke Müdigkeit.
Würde ich gleich morgens einen der ersten Züge nehmen, müsste ich diese miesen Gefühle in Kauf nehmen.
Also stellte ich meinen Wecker vorerst zu um zwölf, das dürfte reichen, um halbwegs fit zu sein.
Mit den Gedanken, wann ich abhauen will, war ich eine ganze Weile beschäftigt.
Zwischendurch schloss ich die Augen, die inzwischen vor Müdigkeit wehtaten. Aber schlafen konnte ich trotzdem nicht, bei all der Aufregung.

Irgendwann, gegen fünf Uhr morgens kam er nach Hause.
Er musste klingeln, um in seine eigene Wohnung zu kommen und ich sprang sofort auf. Weil er so voll war, klingelte er gleich zwei Mal kurz hintereinander. Er hatte wohl Angst, dass ich nicht die Tür öffnete oder schon weg war. Ich wartete gespannt am Türspalt, während er sich die paar Treppen bis zur zweiten Etage hochschleppte. Aber er schaffte es ohne zu stürzen.
Als er den Flur betrat, sagte ich nichts und ging wieder angenervt ins Bett. Ich schaute ihn nicht einmal an, darauf konnte ich verzichten.
Im Bett lauschte ich dem Gepolter in der Wohnung und dachte, er würde jeden Moment hinfallen und sich den Kopf aufschlagen. Dann kam er zu mir ins Schlafzimmer, im Flur brannte noch das Licht und auch der Köter stürzte sich gleich mit ins Bett.
Mein Freund ließ sich wie ein alter Sack quer auf das Bett fallen, seine Beine gaben nun endgültig nach und konnten ihn nicht mehr halten. Welch Wunder, dass er es überhaupt nach Hause geschafft hatte, denn der Weg war unter diesen Umständen recht weit.
Da lag er nun, auf meinen Füßen. Er machte auf seine Art eine indirekte Andeutung, dass er mehr wollte. Das erkannte ich daran, wie er sich mit seinem Kopf in meine zugedeckten Füße wühlte und meine Beine über der Decke streichelte. Sehr offensichtlich und ein kleines bisschen offensiv. Merkte der echt gar nichts mehr?
Ich strampelte meine Füße weg und sagte genervt:„Lass das!“
Er war nicht in der Lage zu antworten.

Dann wurde es plötzlich ruhig, es regte sich nichts mehr und ich hörte nichts.
Das einzige was ich hörte, war ein Atmen gemischt mit einem leisen Schnarchen. Ich fragte mich, von wem das kam. Machte der Hund solche Geräusche oder mein Freund? Nachschauen wollte ich jedenfalls nicht und wartete, bis ich die Geräusche besser identifizieren konnte, da sie sich immer weiter ausprägten in ihrem Sound.
Dann war mir klar, dass diese Schnarchatmung von meinem Freund kam, der in einer ungünstigen Pose eingeschlafen war. Ich guckte vorsichtig unter der Decke hervor, um das Elend neugierig zu betrachten.
Mein Freund lag besoffen am Fußende in einer Position, die aussah, als hätte ihn jemand überfahren. Alle Gliedmaßen von sich gestreckt und den Kopf in die Matratze gedreht. Seine langen Haare verdeckten sein Gesicht teilweise. Ich hoffte nur, dass er nicht auch noch eingepullert hatte. Solche Dinge konnten leicht passieren, wenn man unter Kontrollverlust litt.
Er schnarchte so laut wie noch nie und sein Atem überschlug sich regelrecht. Es machte mir etwas Angst. Die ganze Situation war mir nicht geheuer. Ich guckte wieder dauernd auf die Uhr, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Stattdessen stellte ich mir vor, was ich nachher zu Hause mache und wie ich unter meiner Kuscheldecke auf der Couch liege. Außerdem hatte ich Lust auf warme Pizza und Sojamilch mit Vanillegeschmack.
Der Handywecker von meinem Freund klingelte ab sieben Uhr in regelmäßigen Abständen. Es lag im Flur und ich wollte nicht aufstehen. Beim letzten Treffen erlaubte er mir, dass ich es ausschalten durfte, wenn es mich störte. Er hörte den lauten Wecker nicht und ich hoffte, dass er irgendwann von alleine ausging und das tat er. Paar Minuten später ging das ganze Gedudel von vorne los. Der Wecker stresste mich mit seinem Gute-Laune-Guten-Morgen-Sound, der so gar nicht in diese triste Umgebung passte.

Ich versuchte trotz Wecker ein wenig zu schlummern und mich auf zu Hause zu freuen.
Nun war mir klar, dass ich nicht erst mittags fahren wollte, sondern so früh wie möglich. Meine Kopfschmerzen konnte ich später auskurieren, die zwei Stunden Fahrt würde ich noch aushalten, wenn mich niemand ansprach und etwas von mir wollte. Ich hatte schon schlimmere Sachen durch, wie zum Beispiel mich völlig verheult und mit starken Kopfschmerzen in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Mit der Tatsache, dass ich an dem besagten Tag obendrein auf Schienenersatzverkehr angewiesen war. Das war mies.
Ich stellte meinen überflüssigen Wecker zu um acht, damit ich gegen neun losfahren konnte. Die Zeit davor brauchte ich, um mich zu schminken und um mich eventuell zu verabschieden.

Mein Freund schnarchte und schnarchte.
Bis er auf einmal wach wurde, kurz lachte und aufstand.
Was war jetzt los, dachte ich. Er polterte in der Küche herum und wühlte im Kühlschrank, wobei es teilweise ziemlich klirrte. Bekam er nun einen Fress-Flash, so wie es oft üblich ist, wenn man verkatert ist? Konnte er überhaupt richtig gucken, bei dem verschwommenen Tunnelblick?
Dann ging er ins Bad und ich hörte, wie er sich seine Jeans auszog. War sie etwa doch vollgepullert? Nein, wahrscheinlich zog er sich nur seine Jogginghose an, damit es bequemer ist, denn die hatte er zu Hause immer an. Die Jeans war nach Weihnachten zu eng geworden und kniff ordentlich am Bauch. Das mochte er gar nicht. Dagegen musste er dringend etwas tun. Deswegen machte er sich jetzt sein Frühstück fertig.
Ich hörte ein schrilles ‚Ping‘ aus der Küche. Ah ja, er hatte sich Brötchen aus der Tüte warm gemacht. Es gab Frühstück für ihn und er fragte mich diesmal nicht, da ich Nahrung eh immer ablehnte. Heute gab es sowieso keinen Grund mehr, mich nach meinen Wünschen zu fragen. Wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Mein Freund hielt sich lange in der Küche auf. Dabei konnte ich mir nicht vorstellen, dass er schon ausgeschlafen hatte.
Bevor mein Wecker klingelte, stand ich auf und ging ohne eine Begrüßung ins Bad, in dem noch das Licht brannte. Ich fragte nicht, ob er fertig war. Hauptsache, ich konnte bald nach Hause und diese Bude verlassen.
Ich sah immer noch kacke aus, wie immer, wenn ich ungeschminkt war. Aber das änderte sich gleich und nach ein paar Minuten war ich wieder richtig zufrieden mit mir. Was Schminke alles kann…Auch meine Haare lagen wieder besser, dank Haarspray.

Als ich aus dem Bad kam, lag mein Freund wieder brav im Bett.
Wahrscheinlich alles Taktik, damit er mir aus dem Weg gehen konnte. Er lag genau dort, wo ich vorher gelegen hatte. Der Platz war noch warm. Ebenso gut hätte er gleich mit mir kuscheln können, wenn wir beide viel eher nach Hause gegangen wären. Er hätte alles in dieser Nacht haben können. Aber nein, es sollte nicht so sein.
Nun lag er da, ganz selig mit dem Kopf in sein Kissen gegraben mit dem Blick zur Tür gerichtet. Seine Augen waren geschlossen, damit er mich nicht sehen musste.
Ich packte meine Schminksachen in den Rücksack und schaute nach, ob ich nichts vergessen hatte. Das wäre ärgerlich gewesen, denn ich wollte nie wieder hier her kommen. In der Dunkelheit konnte ich jedoch nicht allzu viel erkennen. Eigentlich hatte ich ja auch nur mein Ladekabel ausgepackt, sonst nichts. Also, was sollte ich schon vergessen haben.
Dann ging ich in den Flur und zog mich in Zeitlupe an. In einer Lautstärke, bei der ich mir erhoffte, dass er aufmerksam wird und sich anständig von mir verabschiedete. Ich raschelte und polterte, schlug die Tür von der Schrankgarderobe zu und tritt mit den Schuhen robust auf den Boden. Aber im Schlafzimmer tat sich nichts. Okay.
Ich schaute nochmal nach, ob ich alles hatte und wühlte meine große Handtasche durch, in der sich nur wenig Inhalt befand.
Als ich bereit zum Aufbruch war, ging ich in sein Zimmer und sagte energisch:„Ciao. Wir sehen uns nie wieder.“ Danach schlug ich die Zimmertür hastig zu. Aber leider war es nicht laut genug.
Das mit dem Niewiedersehen hatte ich beim vorletzten Mal zwar auch schon gesagt, aber diesmal meinte ich es ernst. Ich wollte diese Bude nie wieder betreten und von diesem ganzen Elend nichts mehr mitbekommen. Dieses Treffen war eine Schocktherapie.
Ich hatte mehr Mitleid, als alles andere und mir war klar, dass ich mein Leben mit niemandem tauschen möchte, da ich jetzt einsah, wie viel Glück ich hatte. Es gab keinen Grund, mit dem unzufrieden zu sein, was ich hatte.
Sein Leben war nicht beneidenswert – nichts davon, nicht einmal im Ansatz. Sein Leben erinnerte mich eher an trauriges Scheitern, fernab von Glück und Gesundheit. Die Freude und der Spaß kamen nur durch das Trinken.
Ich fragte mich in der schlaflosen Nacht oft, was ich eigentlich so toll an ihm gefunden hatte und ich konnte keine Antwort finden. Ich wusste es nicht. Wahrscheinlich war das alles nur eine Illusion und ich hatte mich in ihm getäuscht.

Er reagierte nicht auf meine letzten Worte und lag da, ohne sich zu regen.
Er schaute mich nicht einmal an. Ihm war es egal, dass ich für immer ging. Heute Abend gab es schließlich wieder genug zum Saufen und unser Treffen geriet somit für ihn schnell in Vergessenheit. Vielleicht wusste er dann gar nicht mehr, dass wir uns überhaupt getroffen hatten.
Ich schlug die Haustür extra laut zu, als letzten Gruß. Meinetwegen hätte es noch lauter sein können, sodass das Schloss kaputt gegangen wäre. Wäre mir egal gewesen, er hatte ja meine Adresse nicht. Zum letzten Mal lief ich diese Treppen hinunter, vorbei an seinem Briefkasten ohne Schloss und raus aus diesem Haus Nummer 11.
Danach ging ich zum Bahnhof, es war noch viel zu früh. Aber ich konnte nicht mehr bei ihm zu Hause warten. Ich wollte einfach nicht länger dort bleiben und viel wärmer war es in der Wohnung schließlich auch nicht. Also wartete ich eine dreiviertel Stunde in der kühlen Bahnhofshalle und schrieb eine letzte SMS:

P.S.: Du warst echt ekelhaft letzte Nacht. Unterstes Niveau. Du hast recht, ich gehöre nicht in dein Leben und ich will es auch nicht mehr. Du hast mich völlig abgeschreckt und angewidert in den letzten Stunden. Sorry für meine Ehrlichkeit, aber so jemand passt dann doch tatsächlich gar nicht zu mir.

Eine Antwort gab es dazu nicht mehr. Er war schon wieder mit Saufen und Party beschäftigt. Auf der Suche nach der perfekten Frau, die er nie fand.

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Gunther Hecht: Aus dem Wasser, in die Pfanne

Leicht und geschmeidig gleite ich durch das trübe Wasser, an einem stillen sonnigen Herbsttag. Mein Magen ist mit Leere gefüllt und das Gefühl der Schwerelosigkeit nimmt zu – ich habe Hunger! Auf der Suche nach etwas Essbarem schaue ich mich nach Freunden und Familie um. Leider ist niemand zu sehen, bis auf ein paar glibberige Quallen, die ziellos im Wasser treiben. Ich habe sie noch nie gemocht, sie schmecken nicht. Hungrig suchend ziehe ich meine Bahnen. In der Ferne erahne ich auf einmal etwas, das mich interessiert. Dort bewegt sich etwas und es weckt meinen Jagdtinstinkt. Sofort schwimme ich näher heran und kann nichts anderes tun, als anzubeißen. Der Biss tut verdammt weh. Etwas Spitzes hat sich in meinem Maul festgefangen. Ich winde mich und versuche zu entkommen. Stattdessen werde ich an einem dünnen Bindfaden schmerzhaft hochgezogen. Ein letztes Mal fällt mein Blick zurück ins Wasser. Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich meine Frau Gertrud, die mir traurig hinterherguckt. Ich hätte ihr gerne noch gesagt, wie sehr ich sie liebe. Es tut mir Leid, dass ich so dumm war und auf diesen glitzernden Gummifisch hereingefallen bin.
Jetzt kommt ein großes Netz zum Einsatz, von dem ich gekonnt eingefangen werde und ich kann mich nicht dagegen wehren. Mir bleibt nicht anderes übrig, als mich meinem Schicksal zu ergeben und für mich wird es nicht gut enden, das spüre ich.
Dann werde ich mit einem Kopfschlag auf’s Boot geschmissen. Ich fühle mich ganz beduselt. Der Wind zieht barsch durch meine Kiemen und ich schnappe eifrig nach Luft. Meine Flossen zucken, aber ich komme nicht von der Stelle. Eine Minute später wird dieser unangenehme Zustand durch einen kurzen Messerstich beendet. Ich bin tot.
Anschließend werde ich in eine durchsichtige Plastiktüte gepackt und in einer kühlen Box verstaut, in der noch viel Platz ist. Neben mir liegt ein Messer, an dem altes Blut klebt. Ist das vielleicht der Ort, wo meine Freunde zuletzt waren? Jedes Mal, wenn die Klappe aufgeht, rechne ich mit toter Gesellschaft. Aber ich werde nur angeguckt und angefasst. Ich höre, wie eine Stimme sagt:“Ist der noch gut, Ali?“
„Jaaa“, schreit jemand.
Mir ist schon lange nicht mehr gut.
Mein Zeitgefühl habe ich zwar verloren, aber nach gefühlten Stunden bin ich immer noch alleine. Ich lausche, was draußen vor sich geht.
„Wir fahren nach Hause. Heute ist einfach kein guter Tag, nichts tut sich. Gar nichts, kein Biss, nichts. Ich bin echt traurig.“
Bin ich froh, dass Gertrud nicht angebissen hat. Ihr hohes Selbstwertgefühl hat ihr das Leben gerettet. Dennoch vermisse ich sie.
Hinter mir rattert der Motor und mein lebloser Körper vibriert rhythmisch in der Box.
Nach einer Weile wird der Deckel geöffnet und ich werde im Mondlicht durch die Gegend getragen. Ich habe keine Ahnung, wohin.
Irgendwer fragt direkt neben mir:“Oh je. Nur ein Hecht? Zeig mal.“ Wahrscheinlich sind sie enttäuscht, dass ich Gertrud nicht mitgebracht habe. Ich muss ständig an sie denken und vergesse alles um mich herum.
„Wir sind da, pack schon mal den Fisch auf den Tisch, bitte!“
Meine Gedanken werden abrupt unterbrochen. Den Fisch? Ich? Was passiert jetzt mit mir?
Wieder werde ich hektisch woanders hingetragen und in einem hellen Raum auf eine Zeitung gelegt. Mein Blick ist leer und mein Maul ist taub. Als ich das metallische Rascheln im Besteckkasten höre, werde ich hellhörig. Es klingt gefährlich!
„Zuerst schneidet man den Kopf und die Flosse ab“, sagt der Typ über mir und tut im gleichen Moment das, was er sagt.
„Und dann schneidet man einfach den Bauch auf und zieht das Messer so durch den Fisch. Das ist alles eigentlich gar nicht so schwer.“
Ich mag gar nicht dabei zusehen, was er mit mir anstellt und komme mir vor, wie in einem Splatterfilm. Konzentriert und geschickt werde ich mit einem großen Messer in Stücke geteilt. Mein Blut wird von der Zeitung aufgesogen und die anderen kleinen Reste werden mit einem nassen Lappen weggewischt. Alles, was von mir nicht gebraucht wird, landet im Müllsack. Mein leerer Magen auch.
Am Ende bleiben von mir vier mittelgroße Filets übrig, die behutsam in Mehl gebadet werden.
In der Nähe höre ich schon das nervöse Knistern in der Bratpfanne, die Butter wartet schon auf mich.
„Mittlerweile habe ich echt Hunger“, sagt Ali und legt mich in die Pfanne.
Ach ja? Den hatte ich auch und musste dafür sterben. Dafür sterben, dass ihr euren Hunger stillt und satt werdet. Wie gemein.
Meine letzte Station ist der Teller, eine Prise Salz hilft mir dabei, endgültig Abschied zu nehmen.
Wenigstens seid ihr nun glücklich, wenn ich euch schmecke.
Auf Wiedersehen, Gertrud.

Zu Hause im Fernweh

Noch immer nicht richtig zu Hause, aber auch nicht mehr im Hotel. Die lange Strecke von Schottland zurück nach Deutschland hatte mir ganz schön mein inneres Gleichgewicht verdreht.

Mein Herz war noch nicht vollständig in der alten Heimat angekommen und meine Gefühle waren noch leicht verweht von der langen See- und Busfahrt. Ein kurzer Flug hätte sicher ähnliche Folgen gehabt, mit zusätzlichem Mini-Jetlag.
Die heimatliche Verbundenheit schlummerte noch tief in mir, wollte noch nicht erwachen. Stattdessen kribbelte das Fernweh wie verrückt. Der Urlaub in Schottland war wunderschön, sodass er mich das normale Leben erst mal vergessen ließ und ich den Eindrücken eine ganze Weile nachhing, bis ich sie halbwegs verarbeitet hatte. Zeitweise fühlte ich mich wie erschlagen von all den schönen Erlebnissen, an die ich immer wieder denken musste.
Das sofortige Basteln eines neuen Fotoalbums hätte mir sicherlich schnell Erleichterung verschafft, denn dort hätte ich meine tollen Erfahrungen einkleben und bunt gestalten können. Aber für die kreative Ballastentsorgung hatte ich leider noch keine Zeit.

Ich fühlte mich Tage später immer noch neben der Spur.
Während ich meine übliche Radtour auf gewohnten Wegen machte, fühlte ich mich seltsam. Alles um mich herum hatte einen subtilen Touch und wirkte etwas befremdlich. Hier war es längst nicht so wie in Schottland, nein. Die einzige Gemeinsamkeit war das diesig nebelige Wetter, mehr konnte ich nicht finden. Und auch die Luft roch kein bisschen nach frischem Atlantik, sondern nach ruhiger Ostsee. Darin gab es einen überraschend großen Unterschied. Die Atlantikluft war stärker, intensiver und gab mir viel mehr Kraft. Dagegen kam die Ostsee, die im Vergleich wie ein kleiner See wirkte, nicht an.

Beim Radfahren durch den einsamen Herbstwald nahm ich meine Umgebung nur gedämpft wie durch einen Filter wahr, denn vor meinen Augen tauchten wiederholt die Eindrücke meines Urlaubs auf. Ein Bild nach dem anderen, wie eine schnelle Diashow. Welch fotografisches Gedächtnis. Ein leises Gefühl der Sehnsucht beschlich mich, obwohl mir bewusst war, dass ich hier her gehörte, da jeder seinen Ursprung fest in sich trägt.

Bei uns waren die Wälder noch grün, in Schottland kehrte schon langsam zart der goldene Herbst ein. Die Straßen waren oft nass, denn es regnete nach Zufallsprinzip: Mal kurz, mal länger und dann wieder Pause. Die Sonne ließ sich seltener blicken, aber wenn, dann warfen die Wolken ihre Schatten auf die Highlands und zogen dort geheimnisvoll vorüber. Es war das reinste Schattenspiel. Die Wolken verdeckten die Sonne wieder so schnell, dass sie die Funktion eines An- und Ausschalters übernahmen. Durch sie drang die Sonne nicht mehr hindurch und sie tauchten alles in diffuse Dunkelheit.
In Schottland gab es zerklüftete Küsten, niedliche winzige Inseln, unzählige Seen, schroffe Felsen, sanfte raue Berge, Höhen mit Spitzen, versteckte Schluchten und unendliche Freiheit, die einen im Nu verschlingen konnte. In der Freiheit war es leicht, ein Niemand zu werden.
Zu Hause gab es all das nur in stark eingeschränkter Form. Und trotzdem gehörte ich hier her.

Manchmal möchte ich die stressigen Phasen des Lebens gern gegen die Einsamkeit eintauschen. Aber würde es mich auf Dauer glücklich machen? Wohl eher nicht. Ich gehöre nicht unbedingt zu den Eremiten. Trotzdem schaute ich mir mit Wehmut die stark abgelegenen Häuschen und die vergessenen Dörfer in den Highlands an. Leute, die in der Abgeschiedenheit zu Hause waren und die Natur jeden Tag aufs Neue spürten. Sie kannten es nicht anders.

Manchmal möchte ich gerne Teile des modernen Lebens zurücklassen, um wieder mehr zu mir zu finden.
Ein einfaches Leben ohne viel Technik und ein bisschen hinter der Zeit leben. Keine Leute sehen, die beim Laufen auf ihr Handy starren und zu blind sind, um die Realität um sich zu bemerken. In Schottland gab es zwar auch den technischen Fortschritt und Modernisierung, aber eher in der dezenten Variante. Ich hatte das Gefühl, Technik und Status hatten dort nicht so einen hohen Stellenwert. Die Menschen wirkten bescheiden und sehr zufrieden. Sie legten mehr Wert auf echte Gesellschaft und setzten auf die Hilfsbereitschaft ihrer Mitmenschen.
Dort zählten keine Statussymbole, sondern Nähe.
Und ich hörte oft das Wort ’sorry‘. Sie entschuldigten sich für Dinge, die eigentlich gar nicht passiert sind.

Aus Fernweh könnte jedoch auch Heimweh werden, denn in der Ferne vermisst man nach einiger Zeit vielleicht das, was man kennt und dort womöglich nicht bekommt oder nur unter erschwerten Bedingungen.
Ich schätze das Leben in Schottland in seiner Natürlichkeit wirklich sehr. Aber die große Freiheit stellt auch Abhängigkeit dar. Die Abhängigkeit, zu überleben. Die atemberaubenden Wandertouren bergen viele Gefahren, da das Wetter unberechenbar sein und den Tod bedeuten kann.
Ohne Auto wäre man verloren, sofern man nicht in einer größeren Stadt lebt.
Und gab es nur einen Zug? Mir kam es so vor, als gäbe es nur eine eingleisige Bahnlinie in diesem Land.
Zu Hause ist alles in greifbarer Nähe, aber nicht so in Schottland – scheinbar.

Schottland ist ein Land, in dem ich gerne Gast bin und von dessen Landschaft ich träume. Aber Heimat ist da, wo ich zu Hause bin.
Ja, so ist es tatsächlich. Auch wenn ich es früher nie wahrhaben wollte.

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Inkognito Nachbarn

Da stehen sie, genau vor meiner Tür und tratschen. Zwei ältere Damen die sich im hörbarem Flüsterton auf dem Hausflur miteinander unterhalten und die Pausen mit einem herzlichen Lachen füllen.
So, wie es die Leute früher im Dorf eben taten. Das redselige Verhalten der Frauen ist geblieben, nur findet dieses emsige Gerede heute in moderner Umgebung statt. Nämlich vor meiner Tür in einem Mehrfamilienhaus mit hallenden Betonwänden.

Ich möchte eigentlich gar nicht wissen, worum es geht.
Aber die Neugier treibt mich doch dazu, kurz an der Tür zu lauschen und durch den Spion zu gucken. Die Gesprächspartner wechseln von Woche zu Woche. Mal eine Nachbarin von oben oder mal die adrette Dame von nebenan.
Meine Nachbarn haben eine Gemeinsamkeit – sie alle sind Rentner.
Aber ihre Gesprächsthemen ähneln sich jedes Mal.
Meist geht es um den Untergang der gesitteten Jugend, neue Häuser, Bluthochdruck/Diabetes/Medikamente und tote Leute, die frisch verstorben sind. Und natürlich geht es um Krankenhäuser.
Oder es geht um mich, da ich der Dorn in diesem verblümt betagten Haus bin.
Vor allem sind meine Bekanntschaften der Fokus ihrer abendlichen Fensterrunde. Die sind nämlich spannender, als Rentner-Krimis, wie z.B. die Lindenstraße, Rosamunde Pilcher und der Bergdoktor.

Denn den alten Herrschaften entgeht nichts, so lange sie den ganzen Tag hinter ihrer zugezogenen Küchengardine am Fenster sitzen und freie Sicht auf die Eingangstür haben. Im Sommer sind sie mutiger und stützen sich auf ihrem ergonomisch geformten Ellenbogenkissen weit aus dem Fenster, um auch die anderen Eingangstüren im Blick zu haben.
Da wird keine Rücksicht auf Privatsphäre genommen. Nein, sie mischen sich aus ihrer Beobachterperspektive ordentlich in vage Begebenheiten ein, damit es beim nächsten Tratsch auf dem Flur interessante (aber falsche) Neuigkeiten gibt, die in meiner Abwesenheit unter drei Augen besprochen werden besprochen werden, dank grünem Star.

Manchmal komme ich während ihrer tüchtigen Gespräche überraschend aus der Tür, sage freundlich hallo und bringe eine halbvolle Tüte Müll nach draußen, um ein Alibi zu haben.
Die Aussage ihrer Blicke kann ich schwer zuordnen. Sie versuchen, mich nett und aufrichtig anzuschauen, aber ihr gespielter gut gemeinter Blick bleibt irgendwo bei entsetzt und abwertend stecken.
Aber sie versuchen zumindest, ein gezwungenes Lächeln auf ihre schmalen Lippen bekommen.

In ihren Augen bin ich rund zehn Jahre jünger und schleppe jede Woche einen neuen Typen mit nach Hause, mit dem ich mich bei lauter Musik restlos besaufe, bis mein Bett Probleme mit der Statik kriegt.
Denken sie.
Weil sie nicht in der Lage sind, zwischen Kumpel, Lover und Freund zu unterscheiden. Denn früher gab’s nur den Einen. Den einen Ehemann mit zwanzig, weitere männliche Freundschaften völlig ausgeschlossen.

Deswegen nehmen sie auch keine Pakete für mich an.
Weil ihre festgefahrenen Vorurteile mein wahres Ich sprengen.
Knappe Klamotten, Bandshirts, Schminke, roter Nagellack und dünne Strumpfhosen, teils mit Laufmaschen.
Das reicht für Oma schon aus, um nicht unter die Oberfläche tauchen zu wollen.
Und nicht zu vergessen: Die Mischung aus Zigarettenduft, ein bisschen Chemie und Parfüm.
Fertig ist das Klischee eines fragwürdigen Lebensstils.