Neuer Liebling

Dress to impress.

Aus Como

1 Tag Malmö

Das 5 Minuten Date

 

klein

„Ich dachte, du wohnst in Warnemünde“, schrieb Alex.
Ich saß auf meiner Couch und schaute Nachrichten, als die Mitteilung als vibrierendes Glockenping eintraf. Normalerweise schaltete ich mein Handy meist auf stumm, um nicht genervt zu werden. Aber diesmal wartete ich auf Ablenkung, egal in welcher Form. Inzwischen war ich auf alles gefasst und der Unterschied zwischen guten und schlechten Erfahrungen verwandelte sich allmählich in neutrale Oberflächlichkeit. Eine Mischung aus großem Interesse und dem nötigen Abstand zur unnötigen Vorfreude. Denn letztendlich muss man sich auf nichts freuen, was im Herzen noch gar nicht existiert.

„Nee, aber fast“, antwortete ich nach ein paar Minuten. „Warum?“
„Na weil ich jetzt in Warnemünde auf dich warte. Hab die richtige Straße im Navi eingegeben, aber den falschen Ort. Und nun bin ich hier gelandet.“
Okay, das bedeutete spontane Planänderung.
„Na gut, ist nicht schlimm. Bin in einer Stunde in Warnemünde, falls du so lange warten willst.“
„Sehr gut, dann kann ich noch einige Dinge besorgen, mein Wagen ist leer.“
„Würde vorschlagen, wir treffen uns am Bahnhof. Okay?“
„In Ordnung! Bis später.“

Kurz darauf klingelte mein Handy wieder. Meine beste Freundin schickte mir ein Video von unserem letzten gemeinsamen Urlaub in Moskau, als ich vor Lachen kaum noch atmen konnte.
Sie schrieb: „Ich liebe dein Lachen, mein Herz! Du machst mich so glücklich!“
„Ich liebe dich auch, Süße“, schrieb ich grinsend zurück und freute mich.
Wir machten uns fast täglich Liebeserklärungen, das war normal.
Aber von meinem Blinddate erzählte ich ihr nichts. Irgendwie wollte ich nicht darüber reden. Weil ich noch selber nicht wusste, was ich davon halten sollte. Immerhin war der Typ nur zwei Jahre älter als ich. Das hieß, es war das erste Date mit einem Gleichaltrigen und entsprach absolut nicht meinem Schema. Aber ich wollte mal sehen, wie es ist.

Natürlich finde ich es immer besser, wenn man sich nicht zu Hause trifft.
Ich mag es nicht, wenn jemand in mein kreatives Revier eindringt und die Harmonie meiner Wohnung stört. Allerdings wollte ich es diesmal wagen und wissen, wie es ist, einen fremden Mann direkt in meiner Wohnung kennenzulernen. Einfach aus Neugier, Bequemlichkeit und um mir zu beweisen, wie extrem locker ich sein kann. Als Frau sollte man eigentlich auf solche gefährlichen Experimente verzichten. Immerhin kann man durch fremde Typen schnell umgebracht werden, falls man versehentlich seinen Mörder datet. Dennoch kamen mir solche Ängste nie ins Bewusstsein, weil ich nicht ängstlich bin und nicht Monika heiße.

Also schnappte ich mir noch ein paar Gummitiere und machte mich fertig. Zehn Minuten stand ich nachdenklich im Flur, weil mir die letzten Entscheidungen unglaublich schwer fielen: Welche Jacke? Welche Schuhe? Vielleicht sollte ich meinen Konsum endlich einmal einschränken. Viel zu haben macht das Leben nicht unbedingt leichter. Ich entschied mich für bequeme Strand-Schuhe und einer femininen Militärjacke, die ich erst eine Woche hatte. Die liebte ich sofort, weil sie unvernünftig teuer war.

Bevor ich aus dem Haus ging, fragte ich mich, ob man es mir ansah, dass ich innerhalb einer Woche ein Glas Nutella vernichtet hatte. Jeden Tag Nutella zwischen zwei Scheiben Weizenbrot mit Vollkornanteil. Meine ausgelaugten Fettzellen freuten sich bestimmt. Ich zog abrupt mein Shirt hoch, kniff mir in den Bauch und stellte beruhigt fest, dass meine Figur perfekt ist.
Danach plante ich trotzdem eine Detox-Woche mit viel Sport, um den ganzen Müll wieder aus dem Körper zu spülen. Ich kaufte mir die wichtigsten Detox-Produkte und war begeistert, was diese Dinge nach wenigen Tagen im Körper bewirkten. Ich fühlte mich besser und glücklicher, als sonst. Detox-Tee und Detox-Creme gehörten von da an zum Alltag dazu, obwohl ich nicht behaupten würde, dass es bei mir einen gewöhnlichen Alltag gibt.

Ich fuhr mit der Straßenbahn, weil ich keine Lust auf den Feierabendverkehr hatte. Außerdem brauchte ich mein Auto nur für die Arbeit und für die Insel, wenn ich mal einige Tage frei hatte.
In der Straßenbahn saßen einige Menschen, die auch ohne Feierabendverkehr gestresst wirkten. Vielleicht hatten sie nicht so tolle Arbeitsstellen oder Stress mit ihren Partnern oder waren mit sich unzufrieden. Wie auch immer. Beobachten mochte ich gerne. Die Aktionen auf meinem Handy beobachtete ich allerdings kaum. So kam es, dass ich in Warnemünde ankam und nicht wusste, nach wem ich eigentlich Ausschau halten soll. Ich suchte einen Fremden.

Mir kamen viele Leute entgegen und alle wuselten um mich herum. Dazwischen ein Mann, der mir gleich auffiel. Groß, mit Sonnenbrille, Mütze und schwarzem Parka. Ich sprach ihn nicht an, ärgerte mich über meine seltsame Schüchternheit und lief weiter. Immer noch auf der Suche nach Mr. Unbekannt, der Alex hieß.
Am Bahnhof stand niemand, der auf mich wartete.
Aber um ehrlich zu sein, wollte ich gar nicht zu genau hingucken. Es gehörte nicht zu meinem Talent, offensiv nach Personen Ausschau zu halten und zu suchen.
Es dauerte nicht lange, und der Bahnhof leerte sich wieder. Die Leute aus dem Zug tummelten sich auf den Wegen des Hafengeländes und strebten mit Essen in der Hand zum Wasser.
Ich ging woanders hin und setzte mich auf eine Steinmauer. Es war ziemlich kalt, der Wind zog durch meinen Parka und kroch unter mein sommerliches Blumenshirt. Ich fror so sehr, dass ich spürte, wie ich blass anlief und wieder dieses ungesunde Aussehen annahm, das durch die Nutella-Woche noch verstärkt wurde.

Mein Handy lag immer noch unbeachtet in der Handtasche. Als mir immer kälter wurde, stand ich auf, irrte verfroren zum Bahnhof zurück und landete dort auf einer Bank aus Metall. Die kältere Steigerung. Der nächste Zug kam und wieder stiegen zig Leute aus, die alle spazieren gehen und Fischbrötchen essen wollten. Viel mehr konnte man in Warnemünde im Frühling nicht machen. Essen, Shoppen und Wasser, das waren die Hauptattraktionen. Gefolgt von Kaffeetrinken und den beliebten Schlagerpartys im Sommer.

Dann schaute ich auf mein Handy.
Die letzten beiden Nachrichten von Alex waren zwanzig Minuten her.
„Schwarzer Parka.“
„Warte am Bahnhof auf dich!“
Okay, hätte ich vielleicht doch mal früher mein Handy benutzen sollen.
Ich schrieb: „Hab dich vorhin gesehen.. bin vorbeigelaufen..zu spät…wo bist du nun?“
Danach wartete ich auf seine Antwort. Er war eine ganze Weile online, las meine Nachricht, aber nichts kam. Seltsam.
Ich versuchte ihn anzurufen, aber die Computerstimme am anderen Ende meinte, dass er gerade nicht erreichbar wäre. Noch komischer. Zum Schluss sendete ich ihm eine altertümliche SMS und hatte somit alles unternommen, um Kontakt aufzunehmen. Aber keine Antwort.

Wollte er mich jetzt etwa verarschen? Ich fand das alles sehr merkwürdig. Aber dennoch störte es mich nicht besonders. Schließlich störte mich überhaupt nichts mehr. Ich nahm es so hin, wie es war. Was soll mich an einem Fremden stören? Diese anonyme Funkstille passte doch super zum Image eines Fremden! Der Krimi konnte beginnen. Aber mir wurde diese Situation schnell zu blöd.

Ich ging zum Ticketautomaten und kaufte die Rückfahrt, denn länger einsam frieren wollte ich nicht. Die Bahn fuhr in zwei Minuten und als ich mich auf den Weg dorthin machte, meldete sich Alex plötzlich.
„Sorry, mein Handy ist abgestürzt.“
Wie kann denn so etwas passieren, dachte ich mir. Welch ungewöhnlicher Zufall.
„Hmm, ich wollte gerade nach Hause, weil ich dachte, das wäre alles nur ein Scherz.“
„Waaaas? Quatsch…hatte am Bahnhof gewartet und als ich dich nicht sah, bin ich woanders hingegangen.“
Er schickte mir seinen aktuellen Standort, der sich in der Nähe befand. Trotzdem wusste ich erst einmal nicht genau, wie ich dort hinkam und lief in die entgegengesetzte Richtung. Navis waren nämlich nicht so mein Ding.
„Sitze draußen im Café.“
„Na gut, ich komme gleich.“
Das Café war nach einigen Orientierungsfehlversuchen schnell gefunden, aber ich wollte nicht über diesen menschenbesiedelten Vorplatz laufen und ihn irgendwo in der Menge suchen.
„Trink du mal deinen Kaffee aus, ich sitze an der Seite bei den Büschen.“
Ich fand es gut, dort zu sitzen und zu warten, was passiert. Sonst hatte ich mit Büschen ja nicht viel zu tun.

Nach einer Minute kam Alex schon die Straße entlang gelaufen und fand mich. Er lachte. War mein verlorener Anblick etwa so lustig?
Keine Spur von Aufregung bei mir, weil seine Sonnenbrille zu schwarz war und ich insgesamt nicht viel von ihm erkennen konnte, bis auf die Größe und seine Stimme, die ziemlich normal war. Er war schließlich erst dreißig. Was sollte ich also erwarten?
Alles war unauffällig und seine schwarze Mütze versteckte den Rest. Alles schwarz, bis auf die Jeans. Damit hatte er mit gewissen Branchen doch gar nichts zu tun.
Außerdem war er viel dicker angezogen, als ich. Konnte Mann eigentlich noch mehr übertreiben? Ich dachte immer, Männer wären nicht solche sensiblen Frostbeulen. Als er dann noch sagte, es ist ganz schön kalt und windig, rollte ich heimlich mit den Augen.

Wir gingen am Hafen entlang und endeten an der Ostsee vorm Leuchtturm. Sein Blick fiel gleich auf die Wassersportler, die seine vollste Aufmerksamkeit erregten. Alex war schließlich ein vielfältiger Abenteurer, der mit wenig Geld auskam und sogar auf ein richtiges Zuhause verzichtete. Das war ihm alles nichts, er wollte Freiheit und in den Tag hineinleben. Immer woanders sein, ohne richtigen Job und ohne Verpflichtungen. Außerdem war das Meer seine Leidenschaft. Alex war ein moderner Robinson Crusoe und somit wieder jemand, der völlig anders tickte.
Man denkt immer, man kennt alle Arten von Typen, bis man neu überrascht wird. Ich hörte zu, ohne mir ein Urteil zu bilden. Einfach nur zuhören mit keinen Zwischentönen im Kopf. Ich verhielt mich entspannt.
Bis er mir eine Frage stellte: „Und du so?“
„Ich bin deine Nicht-Wellenlänge“, antwortete ich knapp, weil mein Leben komplett anders war.
Daraufhin folgte ein Schweigen, das erst an einem Fischbrötchenstand wieder gebrochen wurde.
„Kannst du mir eine Sorte empfehlen? Du musst doch Ahnung haben, wenn du am Meer wohnst.“
„Nein, ich hab da keine Vorlieben. Ich esse alles, was aus dem Wasser kommt. Auch Muscheln und Mini-Hummer.“
Muscheln gab es am Stand leider nicht.
Alex guckte von links nach rechts und war sichtlich überfordert mit der Auswahl.
Dann nahm er ein geräuchertes Makrelenfischbrötchen.
„Und was möchtest du?“
„Nichts, danke.“
„Wie nichts?“
„Ich hab keinen Hunger, weil ich noch satt bin.“
„Wirklich nicht?“
„Nein, danke, hab vorhin zu Hause Mittag gekocht.“ Mein Mittag war eine Tüte Gummibärchen und zwei Kekse.
„Na gut..ich kann jedenfalls immer sehr viel essen und hab immer Hunger.“
Wie unterschiedlich Männer und Frauen doch ticken. Frauen sind Künstlerinnen in Zurückhaltung und Disziplin. Manchmal jedoch auch im Lügen.
„Willst du dich nicht hinsetzen beim Essen?“
„Nein, stört mich nicht, wenn wir laufen.“

Dann liefen wir einfach ohne Ziel und ohne Plan durch Warnemünde. Zusammen mit einer Menge Gesprächsstoff, trotz der Ungemeinsamkeiten.
Alex wollte gerne Kaffeetrinken und bevorzugte den besten Laden, den es gab. Er wollte den besten Kaffee und guckte sich jede Kaffeemaschine von draußen an.
Nach all der Sucherei setzten wir uns doch in ein recht einfaches Bäcker-Café. Dann nahm er endlich mal seine Brille ab. Ich hatte schon Angst, dass er sie nie abnehmen würde. Es gab schließlich keinen Grund, so undercover unterwegs zu sein.

Erst, als er die Brille abnahm, begann für mich das richtige Date. Er hatte so tolle Augen, dass ich nicht verstand, warum er sie so versteckte. Gerade, weil die Sonne an dem Tag gar nicht schien. Alex hatte ungewöhnlich strahlend blaue Augen. Fast so, als würde sich das Meer permanent darin befinden.
Ich bestellte einen schwarzen Kaffee und Alex einen Cappuccino.
„Mist, ich hab so gut wie nie Bargeld dabei“, gestand ich Alex, als ich nachguckte, wie viel Geld ich überhaupt mit hatte. Es waren 5 Euro.
„Ich bezahle sowieso alles, ist doch selbstverständlich.“
„Wollen Sie den Kaffee hier trinken, oder mitnehmen“, fragte die Frau, die neben Getränken auch Kuchen und andere Backwaren verkaufte.
„Zum hier trinken“, sagte ich fix, bevor Alex die aktivere Variante vorschlug. Denn ich hatte keine Lust, den Kaffee beim Spazierengehen im Wind zu trinken.
Alex nahm das Tablett mit den beiden Tassen und als wir den Tisch erreichten, floss die oberste Schicht meines Kaffees auf dem Tablett und umarmte den Boden der weißen Porzellantasse.
Sein Cappuccino hingegen blieb in Topform, denn der Schaum beschützte den wertvollen Inhalt.

Dann kam wieder diese Situation: Das intime Gegenübersitzen zwischen zwei Fremden. Oft erlebt, aber immer wieder unterschiedlich. Jeder Mann ist nicht gleich und schenkt mir diverse Erfahrungen im Bereich meiner persönlichen Männerpsychologie.
Ich konnte nicht anders, als Alex genau zu beobachten und starrte ihn regelrecht an. Vor allem seine Augen, die so toll waren mit den dunklen dichten Augenbrauen. Faszinierend! Diese Augen zogen mich an. Danach analysierte ich seine Mimik und Gestik, obwohl ich mir das langsam einmal abgewöhnen sollte, da ich mich nicht auf der Arbeit befand. Dabei möchte ich meinen Job so gerne heiraten.

Alex trank seinen Cappuccino, obwohl er noch heiß war. Dann stand Alex plötzlich auf und ging nicht zur Toilette, sondern holte sich einen Löffel, damit sich der Schaum besser essen ließ. Er stippte den Löffel in den Schaum und leckte den Löffel ab. Ich empfand das als interessantes Schauspiel und ließ meinen penetranten Blick nicht von ihm. Scheinbar hatte Alex auch kein Problem damit. Mein limbisches System hatte sich schon etwas auf Alex eingeschossen, denn ich fand ich einfach richtig toll, ohne es erklären zu können. Es war eben so. Plötzlich auftretende Gefühle unterliegen keiner Rechtfertigung.

Ich trank meinen Kaffee, der nicht so heiß war, wie ich dachte. Alex erzählte währenddessen von seiner letzten aufregenden Weltreise und von Kopi Luwak, den ich auch gerne mal trinken wollte.
Als ich sah, dass Alex mit seinem Cappuccino fertig war, trank ich meinen Kaffee umso schneller aus.
Alex musste lachen, als er feststellte, dass in Warnemünde nur alte Leute in Funktionskleidung herumliefen, das kannte er gar nicht. Und meist trugen sie diese Kleidung im Partnerlook.

Das Kaffeetrinken war unser kurzes Hauptdate. Innerlich fühlte ich mich zwar euphorisch, aber diese Euphorie sprudelte nicht über, sondern ebbte schnell ab. Alex passte nicht zu mir, meine Begeisterung für ihn lebte nur kurz. Es war komisch und ich merkte, wie sehr mich meine innere Schutzmauer im Griff hat und meine Emotionen immer mehr abschwächt, damit nichts zu stark für mich wird. Ich spürte diese Schutzmauer zum ersten Mal in ihrer vollsten Intensität und fühlte mich beschützt.
Alex zog seine Jacke an und ließ das Tablett einfach auf dem Tisch stehen, bis ich es nahm und es in die dafür vorgesehene Ablage schob. Als Gast kann man sich schließlich auch benehmen und selber den Tisch abräumen. Zumal wir uns auch nicht in einem Restaurant befanden.

Draußen war es immer noch windig und bewölkt. Nicht gerade mein Lieblingswetter.
„Ich muss noch mal zur Sparkasse. Ich brauche Bargeld“, sagte ich.
„Okay, danach können wir ja wieder zum Strand.“
„Gerne!“
Ich ging in die Sparkasse und Alex spielte draußen mit seinem Handy. Es war ein gutes Gefühl, wieder echtes Geld bei sich zu haben, als immer nur mit Kreditkarten unterwegs zu sein, obwohl es bequemer ist, weil man seltener nachdenkt.

Die Sparkasse war leer und geräumig. Ich schaute mich um und danach zu Alex, der beschäftigt war.
Dann sah ich noch einen zweiten Ausgang. Ich musste nicht lange überlegen, was ich als nächstes tun würde. Der zweite Ausgang rettete mich und ich schlich mich unbemerkt aus diesem weniger erfolgsversprechenden Dating-Verhältnis. Es handelte sich um einen einseitigen Kompromiss, dessen Folgen nicht weiter schlimm sein würden. Ich wollte nicht wieder mit Vollgas im nächsten Gefühlschaos landen. Vor allem lohnte sich dieses Chaos bei diesem chaotischen Typen noch nicht einmal. Außerdem war mir Alex bedeutend zu jung.

Ich suchte mir ein anderes Café zum Verweilen und hoffte, dass Alex mich nicht suchen würde. Aber da er Warnemünde eh nicht kannte, hatte er schon verloren. Ich bestellte mir wieder einen großen Kaffee und ein Stück Quarkkuchen. Mein Handy bekam natürlich keine Beachtung.
Im Café war nicht viel los, da die Saison noch nicht begonnen hatte. Deswegen konnte ich die Ruhe um mich herum genießen. Ich nahm mein Notizbuch aus der Tasche und schrieb die wichtigsten Gedanken, die mir in den Kopf kamen, wie gewöhnlich auf. Diese Notizen sind oft nützliche Bruchstücke, die mein Leben mit neuen Inspirationen füllen. Zumal ich auch nervös werde, wenn ich mein Notizbuch nicht dabei habe. Zu Hause hatte ich 184 volle Notizbücher, die sich seit meinem 9. Lebensjahr ansammelten. Ich hatte schon eine Menge Gedanken.

Was Alex jetzt wohl machte? Inzwischen musste er bemerkt haben, dass ich nicht mehr anwesend war und mir einen anderen Ausweg suchte.
Ich schaute kurz auf mein Handy, auf dem ‚Wo bist du?‘ stand. Zwar war es gemein, einfach abzuhauen. Aber ob man nun abhaut oder gleich sagt, dass man kein Interesse hat, ist doch das gleiche. Das Band zwischen zwei Fremden ist unverbindlich und ich wollte daraus nicht mehr werden lassen, weil ich wusste, dass es nicht gut ist. Alex ist ein Weltenbummler. Dem macht es sicher nichts aus, wenn er kein menschliches Souvenir mit sich herumtragen muss. Wenn er stets Unabhängigkeit wollte, so durfte er diese auch behalten. Bindung wäre eine Sackgasse mit Zaun auf seiner Reise.

Nach einer Stunde ging ich zurück zum Bahnhof und da die Züge ständig fuhren, musste ich auch nicht warten. Alex sah ich nirgendwo. Wahrscheinlich fuhr er zu anderen Freunden, da er überall jemanden kannte, der ihn aufnahm und sich freute, ihn zu sehen. Schließlich war er selten in Deutschland. Im Zug war ich wie erstarrt, da mein Zustand immer noch vage zwischen Begeisterung und Ablehnung pendelte. Wenn aus zwei extrem gegensätzlichen Gefühlen ein Gefühl wird, dann ist es meistens die feine Apathie. Eine gute Lösung, um mit emotionalen Widersprüchen klarzukommen und um wieder zu sich zu finden. Apathie macht alles ein wenig einfacher, da man Dinge so hinnimmt, wie sie sind und oft anfängt, zu träumen.

Als ich zu Hause war, schmiss ich mich auf die Couch, lag minutenlang einfach so da und schaute mir das surreale Ölbild mit den Schafen an. Das drückte meine Stimmung immer perfekt aus, da es nach meinen Vorstellungen gemalt wurde.
Danach schaute ich mir einen Film an und freute mich mit einem Glas Champagner auf den Rest des Abends.
Alex schrieb: „Was ist denn los mit dir? Geht’s dir gut? Was machst du?“
Dann schaute ich den Film weiter, ohne weitere innere Regung und ohne Antwort. Meine Konzentration galt nur dem Film, der war spannender und wirkte bei mir besser, als Alex.
Anschließend machte ich noch ein bisschen Bauchtraining und ging duschen. Ich verblieb eine ganze Weile im Bad, da ich regelmäßig einen Wellnesstag mit Komplettprogramm einlegte. Gerade nach dem Date mit Alex war das auf jeden Fall nötig.
Als ich im Bett lag, beschloss ich, Alex zu antworten, damit er sich keine Sorgen machte.
„Mein Herz ist woanders“, schrieb ich, machte die Augen zu und schlief bald darauf ein.

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Oma Irmgard


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Diese alte Frau saß mir die ganze Zeit wie versteinert gegenüber. Ich hatte natürlich nichts gegen alte Frauen, nein. Aber auf mich wirkte sie merkwürdig. So, als ob sie hier nicht hingehörte. Sie sah zwar aus, wie eine typische Oma, nur ihr Blick war wunderlich und abschweifend. Immer wieder guckte sie ins Leere oder durch mich hindurch, mit ihren dunkelblauen Augen, die aussahen, wie der Sommer am Meer. Dieser Zug war nicht der richtige Ort für sie, das spürte ich. Mich beschlich das Gefühl, als würden viele Leute im Altenheim sie schon verzweifelt suchen und musste gleich an meine liebe Oma zu Hause denken, die schon mit selbstgebackenem Kuchen auf mich wartete, der immer sehr lecker war. Ich schaute, ob die Oma auch irgendetwas dabei hatte und sah nur einen netzartigen Beutel. Man konnte alles durch die Maschen sehen: zusammengeknüllte Stofftaschentücher, dreieckig gefaltete Servietten, ein Stück Brot und einen Apfel, der nicht mehr ganz frisch aussah. Außerdem gab es noch einen größeren Klumpen aus Alufolie. Es sah aus, als würde die Oma Dinge für schlechte Zeiten sammeln, die inzwischen kaum mehr genießbar waren. Ich fragte mich, wo sie wohl hinwollte, an diesem grauen Wintertag und beobachte die Schneeflocken, die sanft gegen die Fensterscheibe flogen und Kristalle bildeten. Die Oma guckte stattdessen an die Taschenablage über ihr, wie verloren.
Ein knielanger Rock und hautfarbene Strumpfhosen mit Laufmaschen, waren die einzigen Kleidungsstücke, die ihre mageren Beine bedeckten und auf den Knien schimmerten blaue Flecken. Ihre Schuhe waren platt und ausgelaufen. Wahrscheinlich besaß sie nur dieses eine Paar Schuhe, welches kaum noch Sohle hatte. Mir tat die Oma Leid, die in diesem Winter scheinbar schon mehrmals den Boden mit ihrem gebrechlichen Körper berührte und trotzdem so robust war, um immer wieder aufzustehen. Sie gehörte wohl zu der Kategorie ‚dünn und zäh‘. Sonst würde sie nicht in diesem Zug sitzen, sondern im Krankenhaus liegen. Die Oma merkte nicht, wie ich sie die ganze Zeit neugierig beobachtete. Ihr Blick blieb fern und unnahbar, dennoch trafen sich unsere Blicke manchmal. Vielleicht, weil ich es darauf ankommen ließ und ihr Wärme mit einem Lächeln schenken wollte. Sie wirkte so einsam. Aber ihre Mundwinkel zeigten keine Veränderung, sie blieben gerade, wie ein schmaler blasser Strich, der sich durch das eingefallene Gesicht zog und fast gar nicht auffiel. Wahrscheinlich hatte sie gar kein Gebiss im Mund. Auf ihrem Wollpullover mit der hübschen Rosenstickerei entdeckte ich einen roten Marmeladen-Klecks, vom letzten Frühstück und auch paar kleine Brotkrümel hingen noch in der Wolle fest. Sie hätte sie einfach nur abstreifen müssen. Aber ihre nestelnden Finger waren zu sehr mit sich beschäftigt. Sie berührte immer wieder ihren Fingerring, schob ihn auf und ab, drehte ihn oder pulte nervös an ihren Nägeln, die schon rau und gerötet waren. Der Rest ihres Körpers wirkte friedlich.
Ich fragte mich, was die Oma bei der Kälte ohne Gepäck und in ihrer dünnen Bekleidung vorhatte. Nicht einmal eine Jacke hatte sie dabei. Jedenfalls konnte ich keine finden. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht einmal den Schaffner bemerkte, der die Fahrausweise kontrollierte. Erst, als er mir auf die Schulter tippte, nahm ich ihn wahr. „Die Fahrausweise bitte“, sagte er monoton. Danach war die Oma dran und ich war gespannt. Sie schaute ihn stumm an, ohne Reaktion und etwas bizarr. Mehr kam von ihr nicht und der Schaffner war ebenso verdutzt. Egal, was er sagte, die Oma tat nichts. Als ob sie gar nichts verstand und von einer anderen Welt wäre. Sie sagte keinen Ton und versuchte es nicht einmal. Ich malte mir langsam aus, dass die Oma taubstumm und verwirrt war. Aber sicher sein konnte ich mir nicht. Jedenfalls stimmte etwas nicht mit ihr.
Nach einigem Zögern fasste der Schaffner den Pullover der Oma an und suchte nach etwas. Er fand wie erhofft ein Etikett auf dem Name und weitere Zeilen standen: Irmgard Birnbaum, Pflegeheim ‚Unvergessen‘.
„Sie brauchen keine Angst haben“, sagte der Schaffner, „Sie werden wieder nach Hause gebracht, wo Sie sicher schon eifrig gesucht werden.“ Oma Irmgard zeigte weder Freude noch Enttäuschung. Sie saß da, ganz zurückhaltend und reglos. Bis auf ihre Finger, die keine Ruhe fanden.

Zu Hause im Fernweh

Noch immer nicht richtig zu Hause, aber auch nicht mehr im Hotel. Die lange Strecke von Schottland zurück nach Deutschland hatte mir ganz schön mein inneres Gleichgewicht verdreht.

Mein Herz war noch nicht vollständig in der alten Heimat angekommen und meine Gefühle waren noch leicht verweht von der langen See- und Busfahrt. Ein kurzer Flug hätte sicher ähnliche Folgen gehabt, mit zusätzlichem Mini-Jetlag.
Die heimatliche Verbundenheit schlummerte noch tief in mir, wollte noch nicht erwachen. Stattdessen kribbelte das Fernweh wie verrückt. Der Urlaub in Schottland war wunderschön, sodass er mich das normale Leben erst mal vergessen ließ und ich den Eindrücken eine ganze Weile nachhing, bis ich sie halbwegs verarbeitet hatte. Zeitweise fühlte ich mich wie erschlagen von all den schönen Erlebnissen, an die ich immer wieder denken musste.
Das sofortige Basteln eines neuen Fotoalbums hätte mir sicherlich schnell Erleichterung verschafft, denn dort hätte ich meine tollen Erfahrungen einkleben und bunt gestalten können. Aber für die kreative Ballastentsorgung hatte ich leider noch keine Zeit.

Ich fühlte mich Tage später immer noch neben der Spur.
Während ich meine übliche Radtour auf gewohnten Wegen machte, fühlte ich mich seltsam. Alles um mich herum hatte einen subtilen Touch und wirkte etwas befremdlich. Hier war es längst nicht so wie in Schottland, nein. Die einzige Gemeinsamkeit war das diesig nebelige Wetter, mehr konnte ich nicht finden. Und auch die Luft roch kein bisschen nach frischem Atlantik, sondern nach ruhiger Ostsee. Darin gab es einen überraschend großen Unterschied. Die Atlantikluft war stärker, intensiver und gab mir viel mehr Kraft. Dagegen kam die Ostsee, die im Vergleich wie ein kleiner See wirkte, nicht an.

Beim Radfahren durch den einsamen Herbstwald nahm ich meine Umgebung nur gedämpft wie durch einen Filter wahr, denn vor meinen Augen tauchten wiederholt die Eindrücke meines Urlaubs auf. Ein Bild nach dem anderen, wie eine schnelle Diashow. Welch fotografisches Gedächtnis. Ein leises Gefühl der Sehnsucht beschlich mich, obwohl mir bewusst war, dass ich hier her gehörte, da jeder seinen Ursprung fest in sich trägt.

Bei uns waren die Wälder noch grün, in Schottland kehrte schon langsam zart der goldene Herbst ein. Die Straßen waren oft nass, denn es regnete nach Zufallsprinzip: Mal kurz, mal länger und dann wieder Pause. Die Sonne ließ sich seltener blicken, aber wenn, dann warfen die Wolken ihre Schatten auf die Highlands und zogen dort geheimnisvoll vorüber. Es war das reinste Schattenspiel. Die Wolken verdeckten die Sonne wieder so schnell, dass sie die Funktion eines An- und Ausschalters übernahmen. Durch sie drang die Sonne nicht mehr hindurch und sie tauchten alles in diffuse Dunkelheit.
In Schottland gab es zerklüftete Küsten, niedliche winzige Inseln, unzählige Seen, schroffe Felsen, sanfte raue Berge, Höhen mit Spitzen, versteckte Schluchten und unendliche Freiheit, die einen im Nu verschlingen konnte. In der Freiheit war es leicht, ein Niemand zu werden.
Zu Hause gab es all das nur in stark eingeschränkter Form. Und trotzdem gehörte ich hier her.

Manchmal möchte ich die stressigen Phasen des Lebens gern gegen die Einsamkeit eintauschen. Aber würde es mich auf Dauer glücklich machen? Wohl eher nicht. Ich gehöre nicht unbedingt zu den Eremiten. Trotzdem schaute ich mir mit Wehmut die stark abgelegenen Häuschen und die vergessenen Dörfer in den Highlands an. Leute, die in der Abgeschiedenheit zu Hause waren und die Natur jeden Tag aufs Neue spürten. Sie kannten es nicht anders.

Manchmal möchte ich gerne Teile des modernen Lebens zurücklassen, um wieder mehr zu mir zu finden.
Ein einfaches Leben ohne viel Technik und ein bisschen hinter der Zeit leben. Keine Leute sehen, die beim Laufen auf ihr Handy starren und zu blind sind, um die Realität um sich zu bemerken. In Schottland gab es zwar auch den technischen Fortschritt und Modernisierung, aber eher in der dezenten Variante. Ich hatte das Gefühl, Technik und Status hatten dort nicht so einen hohen Stellenwert. Die Menschen wirkten bescheiden und sehr zufrieden. Sie legten mehr Wert auf echte Gesellschaft und setzten auf die Hilfsbereitschaft ihrer Mitmenschen.
Dort zählten keine Statussymbole, sondern Nähe.
Und ich hörte oft das Wort ’sorry‘. Sie entschuldigten sich für Dinge, die eigentlich gar nicht passiert sind.

Aus Fernweh könnte jedoch auch Heimweh werden, denn in der Ferne vermisst man nach einiger Zeit vielleicht das, was man kennt und dort womöglich nicht bekommt oder nur unter erschwerten Bedingungen.
Ich schätze das Leben in Schottland in seiner Natürlichkeit wirklich sehr. Aber die große Freiheit stellt auch Abhängigkeit dar. Die Abhängigkeit, zu überleben. Die atemberaubenden Wandertouren bergen viele Gefahren, da das Wetter unberechenbar sein und den Tod bedeuten kann.
Ohne Auto wäre man verloren, sofern man nicht in einer größeren Stadt lebt.
Und gab es nur einen Zug? Mir kam es so vor, als gäbe es nur eine eingleisige Bahnlinie in diesem Land.
Zu Hause ist alles in greifbarer Nähe, aber nicht so in Schottland – scheinbar.

Schottland ist ein Land, in dem ich gerne Gast bin und von dessen Landschaft ich träume. Aber Heimat ist da, wo ich zu Hause bin.
Ja, so ist es tatsächlich. Auch wenn ich es früher nie wahrhaben wollte.

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Kapuzi-Pause

Kapuzi-Pausen waren die Pausen, die mich auf der Busreise am meisten nervten.
Was Kapuzi überhaupt heißt?- Kapuzi = Kaffee, Pullern, Zigarette.
Die drei häufigsten Aktivitäten von Reisegästen im Busfahrerjargon.

Während alle bei der nächsten Gelegenheit wie verrückt zum Klo rannten, wusste ich mit der Zeit nichts anzufangen. Saß im Bus, schaute aus dem Fenster oder stand draußen im Abseits des Geschehens.
…Ich musste nicht zur Toilette oder weigerte mich, zu müssen.
…Ich wollte keinen Kaffee und trank sowieso nichts. Vermeidungsverhalten, um bloß nicht zur Toilette zu müssen.
…Ich rauchte nicht, sondern kaute auf harten vegetarischen Lakritzdreiecken, die an den Zähnen klebten. Meine Ersatzbefriedigung gegen Langeweile.

Außerdem schaute ich den anderen geduldig dabei zu, wie sie sich liebevoll um ihre Grundbedürfnisse kümmerten.
Sie standen kontaktfreudig in langen Reihen vor den Toiletten und tranken danach einen Becher starken Maschinen-Kaffee, um dies bald wieder tun zu können.
Anstehen. Pullern. Trinken. Warten. Pause.
Der Bus hielt alle zwei Stunden, ein perfektes Blasentraining für all die älteren Damen. Hatte der Busfahrer das nicht gut geplant? Ihn selber sah ich nie auf der Toilette. Mir fiel generell auf, dass sich die Männer weniger um die Toiletten drängelten und sich lieber die Beine an der frischen Luft vertraten, auch wenn es nur auf einer Stelle vor dem Bus war. Irgendwie waren sie toilettenmäßig einfach besser trainiert, als die Frauen. Ihnen war es wichtiger, sich mit dem Busfahrer über technische Details zu unterhalten und fragten ihn, ob es schwierig war, auf der linken Straßenseite zu fahren. Die Männer waren fasziniert von seinem Können, den Bus seitenverkehrt zu beherrschen.
Der Busfahrer erntete viel Anerkennung und ließ sich davon abhalten, zwischendurch ein bisschen Privatsphäre zu genießen.

Mehrmals wagte ich es dennoch, mir die Toiletten genauer anzuschauen. Machte aber gleich wieder kehrt, wenn es nicht so war, wie ich es mir wünschte. Ich wünschte mir Ruhe und Einsamkeit.
Die quackelnden Warteschlangen vor der Tür machten mich nervös, obwohl ich sie in der Klokabine gar nicht sehen konnte. Aber ich hörte das unruhige Schaben ihrer Schuhe auf dem matten Fliesenboden, ihre wirren Stimmen und das Rascheln von Papier oder das Klirren der Gürtelschnalle in der Nachbarklokabine.
Mann, warum konnten diese Räume nicht völlig geschlossen sein? Dieser Schlitz unten am Boden machte mich wahnsinnig. Ich bekam alles mit, was nebenan geschah, sah bewegende Schatten und konnte mich dabei nicht mehr auf mich konzentrieren. Schlimm.
Zudem kam ich mit dem Druck nicht klar, dass alle Frauen vor der Tür darauf warten, dass ich ENDLICH fertig war, nur damit sie ihren bohrenden Strahl schnell ins Klo schießen konnten. Was ich unter diesen Umständen, wie Hektik, niemals konnte.
Ich hasste öffentliche Toiletten! Und noch viel mehr, wenn alle Frauen aus dem Reisebus zur selben Zeit pullern mussten.

Deswegen waren diese Kapuzi-Pausen nicht mein Ding. Für mich waren es Pausen des Verzichts und des Leidens. Die Pausen waren zu kurz, um als Letzte in absoluter Stille aufs Klo zu gehen. So musste ich weiterhin auf die perfekte Gelegenheit warten.
Fast alle Frauen hatten es geschafft, an jeder schottischen Raststätte erfolgreich ihren Kaffee auszupullern. Sie nahmen jede Klobrille mit.

Klar trank ich auch gerne Kaffee. Aber nicht, um anschließend in gestörter Umgebung aufs Klo zu müssen. Die damit verbundenen Strapazen waren es mir nicht wert.
Und klar rauchte ich auch ganz gerne mal. Nur leider hat es Nikotin im ungünstigsten Fall an sich, ebenso den Harndrang zu fördern.
Tja.

Der fürsorgliche Busfahrer sorgte in den Mittagspausen für Verpflegung, indem er Dosensuppen und Würstchen warm machte. Dazu gab es eine Scheibe Toastbrot aus Vollkorn. Klang eigentlich ganz gut. Er bot alle möglichen Suppen an und ich dachte, dass mir eine Kartoffelsuppe vielleicht ganz gut tun würde. Ich bestellte sie vorher für 2,50 €. Aber als ich sah, wie die anderen gierig mit ihrem Essen abmaschierten, überlegte ich es mir sofort anders und stand verzichtend am Straßenrand wie ein bockiges Kind. Die anderen guckten mich fragend an, sagten aber nichts. Mir war klar, was sie dachten: Die Jugend ist verwöhnt und mäkelig. Von Vegetarierin erwähnte ich erst gar nichts. Die anderen taten so, als würde ihnen der Billigeintopf in der sterilen Plastikschale schmecken. Wahrscheinlich war es auch so. Alles wie zu Hause. Oder sie hatten zu großen Hunger vom langen Sitzen.

Diese Kapuzi-Pausen machten mich unglücklich.
Für die anderen wiederum waren sie eine Erlösung, sie wirkten danach meist deutlich entspannter, als ich. Aber ich konnte damit leben, war ja meine Schuld, dass ich mich so ‚verklemmt‘ und kompliziert anstellte.

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Giftshop

Giftshop.

Bei dem Wort würde wohl so mancher Deutsche komisch gucken, der kein Englisch kann. Im schlimmsten Fall würde sich sogar ein unbehagliches Gefühl bei ihm einschleichen, ohne, dass er sich nach außen etwas anmerken ließe.
Dabei ist ein Giftshop ein ganz normaler Geschenkeshop im englischsprachigen Raum. Ich verstehe aber auch nicht, was Gift mit Geschenken zu tun hat und warum man sich dafür kein anderes Wort ausdenken konnte.

Schottland lebt durch den Tourismus und fängt damit seine Fische. Nämlich all die besorgten Einkäufer, die dringend Souvenire für ihre Liebsten zu Hause brauchen oder um ihr Auto mit einem neuen Reiseaufkleber zu schmücken. Als Andenken für alle Neider und Ehemänner, die ihre Umgebung diskret aus dem Auto beobachten.

Ich staunte nicht schlecht, dass es selbst in den abgelegensten Orten diese speziellen Giftshops gab. In Orten, in denen man diese Shops nie vermuten und finden würde, wenn man keinen persönlichen Reiseführer hätte, der schon mehr als tausend Mal da war.

Zuerst mochte ich die Giftshops. Sie waren neu für mich und hatten ein anderes Angebot, als die Läden in Deutschland – bildete ich mir jedenfalls ein.
Bereits von draußen sahen sie einladend aus und lockten mit ihren tollen Keksen, die in anheimelnden Weiden-Körbchen vor der Tür standen.
Die Läden waren meist klein und gemütlich. Aber es gab auch größere Läden, in denen 20 Minuten Aufenthalt längst nicht reichten, weil sie zu viel interessanten Kram beherbergten. Natürlich handelte es sich dabei oft um Kitsch, aber um schönen Kitsch, an den selbst ich nicht vorbeilaufen konnte. In den großen Läden hätte ich mich mindestens zwei Stunden aufhalten können.

Es gab alles, deswegen war es wie in einem schottischen Paradies.
Für mich waren selbst die harmlosesten Kekse wahre Delikatessen. Ein kurzer Blick reichte und ich hatte eine Vorstellung, wie sie schmeckten. Alle Kekse hatten den selben Ursprung und kamen aus der gleichen Familie. Es gab sie in Packungen, die mit einem rot-karierten Muster bedruckt waren. Man konnte sie aber auch in attraktiven Geschenkdosen aus Blech kaufen. Die Kekse waren alle sehr lecker, gefolgt von den weichen Toffee Bon Bons mit Whisky-Geschmack. Etwas Neues für mich. Für die anderen vielen Köstlichkeiten interessierte ich mich eher weniger.

Man darf in solchen Läden nicht den Fokus aufs Wesentliche verlieren und muss wissen, in welche Richtung die Suche nach dem passenden Andenken geht. Meine Sucht nach Keksen konnte ich befriedigen und kaufte eine große Keks-Collection, darunter auch derbe Butterkekse in Schafform.

Ich mag Schafe und die gab es in jedem Giftshop in vielen Varianten. Schafe waren typisch für Schottland, weswegen sie als Geschenk gut vermarktet wurden. Ich fand schnell viele Schafe, die mir gefielen. Das war kein Problem und da ich mich zügig entschied, blieb mir noch Zeit für all den nebensächlichen Kitsch.
Es gab auch anspruchsvolle Ware, wie teure Pullover aus echter Ziegen- und Schafwolle: Cashmere. Sehr weich und edel. Aber nichts für mich, ich fühlte mich zu jung für eintönige Farben und gediegene Schnitte. Ich entschied mich für einen grauen Cashmereschal mit Schafen und weiche Strümpfe mit Schafmuster. Das entsprach genau meiner Persönlichkeit und meinem Geschmack.

Die Giftshops geben alles her, was ein Touristen-Laden braucht. Einheimische werden dort vielleicht seltener erscheinen, sofern sie darin nichts verloren haben.
Ich muss gar nicht mehr aufzählen, was es gab. Es gab einfach alles: Essen, Trinken, Kitsch und Kleidung. Sowie all die Dinge, die das Leben fülliger und spaßiger machen. Hauptsache, auf jedem Gegenstand stand ‚Scotland‘ drauf, geziert mit einer Distel (der Nationalblume) oder dem vollständigen Wappen.

Nicht zu vergessen: Schottische Dudelsackmusik, die aus jedem Laden laut ertönte. Am Ende konnte ich es nicht mehr hören und meine Begleitung fing sogar an, in den Läden zu stolpern, als wenn die Musik sie schon duselig machte. Ich musste darüber sehr lachen. Ja, die Musik konnte nach einer Weile besoffen machen. Ich fragte mich, wie es die Verkäufer darin nur so lange aushalten konnten, ohne verrückt zu werden.
Oder waren es vielleicht die Gerüche, die einen ins Taumeln brachten? In jeder Ecke duftete es anders. In der einen nach Heidekraut, in der nächsten nach den Stoffen des schottischen Kilts, in der anderen nach Whisky und nach Gebäck, und in der Mitte roch es nach dem Fell der Plüschtiere, darunter auch Nessie in grün.

Auch, wenn ich die Giftshops am Ende vor lauter Erschlagenheit nicht mehr betreten konnte und fürchtete, davon zu träumen, vermisse ich sie manchmal doch ein wenig.

Die Verkäufer fühlten sich mit ihren Läden sehr verbunden und schafften es, dem Fremden ihre Kultur ein wenig nahezubringen und sie in kleinen Stücken zu verkaufen.

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Anfangsende des Urlaubs

Heute vor genau zwei Wochen ging es los. Die langersehnte Reise nach Schottland, auf die ich knapp ein Jahr wartete. Dank meiner Lebenserfahrung wusste ich, dass die Dinge, auf die man sich am meisten und am längsten freut, fast sofort wieder zu Ende sind.
Deswegen setzte ich den Anfang und das Ende gleich auf eine Stufe.
Am Tag der Abreise wusste ich, dass ich viel zu schnell wieder zu Hause sein würde, obwohl ich acht volle Tage vor mir hatte. Acht Tage sind viel. Das merkt man besonders, wenn man täglich zur Arbeit geht.
Im Urlaub sollte man jeden einzelnen Moment bewusst auskosten, denn dort tickt die Zeit anders.

Meine Taschen waren rechtzeitig gepackt. Bemüht, nur das Nötigste einzupacken, denn die Tasche würde nach dem Urlaub doppelt so schwer werden. So etwas sollte man vorher bedenken. Man braucht genug Platz für landestypische Andenken, Whiskey-Flaschen haben auch ihr Gewicht.
Ich hatte eine bescheidene Teenie-Reisetasche, einen süß bedruckten Beutel als Handgepäck für die Nacht auf der Fähre und meine Handtasche, in der sich reichlich wichtige Dinge befanden. Natürlich hatte ich wie immer nichts vergessen.

Die Reise ging erst um fünf nach Mitternacht los. Deswegen teilte sich meine Aufregung am Tag in kleineren Portionen auf, gut dosiert.
Eine Stunde vor der Abreise war Schluss mit dem Frieden. Ich konnte nicht mehr still vor dem Fernseher sitzen und zog meine neuen Schuhe an, die ich mir am Nachmittag noch spontan kaufte und darüber sehr glücklich war. Sie hatten einen kleinen Absatz und übertrafen meine langweiligen Sneakers, die ich im Sommer noch unentbehrlich fand. Nun hatten sie schon ihren dritten Nachfolger.

Die Abreise sollte bequem per Haustürabholung stattfinden, so war es vereinbart. Eine halbe Stunde vor dem Termin stand ich samt Gepäck vor der Haustür und war angetan von der milden Nachtluft. Kein Hauch Wind, eine laue Spätsommernacht im September.
Ich erwischte mich dabei, wie ich im Minutentakt auf meine Uhr schaute. Warten war nicht unbedingt meine Stärke, sondern eher Ungeduld und Nervosität.

Die Straße war leer und es regte sich nirgendwo etwas um diese Zeit. Auch um Punkt Mitternacht und zehn Minuten später nicht. Meine Ungeduld wuchs und ließ mich bald zur hypochondrischen Drama Queen werden, die nach Gründen für diese Situation suchte.
Was war, wenn sie mich vergessen hatten? Oder die Adresse nicht gefunden wurde? Hatte ich mich vielleicht im Datum geirrt? Warum kam dieser verdammte Zubringermensch nicht? Was war hier nur los?
Hatte der etwa kein Navi? Vielleicht ein Unfall, der die Straßen versperrt?
Oh Mann, ich wurde irre vor Angst, in Vergessenheit geraten zu sein. Schließlich hatte ich mich so auf den Urlaub gefreut, der konnte jetzt nicht platzen! Auf gar keinen Fall! Mir fiel ein, dass solche Vorfälle schon vorkamen. Leute freuten sich auf ihren Urlaub und standen plötzlich vor dem Nichts. Alles umsonst.

Ich starrte dauernd auf die Straße und beobachtete jedes Licht, das in der Ferne erschien und beim Abbiegen wieder erlosch. Das konnte doch alles nicht wahr sein, denn ich verließ mich strikt auf Pünktlichkeit. Verspätung erwartete ich höchstens von der Bahn.
Es fuhren paar Autos an mir vorbei. Jeder auftauchende Scheinwerfer erweckte neue Hoffnung und zerstörte sie gleich danach.
Langsam bekam ich schlechte Laune und regte mich über die Unzuverlässigkeit seriöser Unternehmen auf. Wie konnte das nur sein, was erlauben die sich und so weiter.
Als ich schon fast aufgab und den Urlaub gedanklich halb hingeschmissen hatte, blitzten neue Scheinwerfer auf, die sich verdächtig langsam näherten. Es konnte sich nur um ein Auto handeln, das sich hier nicht auskannte. Als es zögerlich immer näher kam, erkannte ich den Kleinbus und war überglücklich! Ich winkte ihm wild zu.

Ein äußerst temperamentvoller Mann mit polnischem (oder italienischem?) Akzent sprang aus dem Wagen und hievte das Gepäck mit Schwung in den Kofferraum.
Endlich, endlich, endlich! Ich freute mich und begrüßte die anderen Mitreisenden.
Nach dem anfänglichen Schock konnte die Reise beginnen. Eine Reise durch die Nacht, in der ich schon nach einer Stunde die erste Reisetablette gegen Übelkeit schlucken musste. Ohne Wasser, denn das hatte ich vergessen.

Wenn ich nun daran denke, dass all die Freude und Erlebnisse schon zwei Wochen her sind, wird mir komisch. Wo ist die Zeit geblieben?
Sie ist tatsächlich so schnell vergangen, wie ich es hervorgesehen hatte. Schade, dass das Leben keinen Slow-Motion-Modus hat.

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