







Weihnachten in Swinemünde an der Ostsee
Meine Lieblingsjacke und ich.
Nach einem Blitzgedanken folgt sofort eine Tat.
So war es auch diesmal, als ich meine Wut und Enttäuschung über den misslungenen Abend nicht mehr verdrängen konnte und das Gefühl bekam, ausbrechen zu müssen.
Weg, weg, weg!
Weg aus diesem Zimmer, weg aus dieser Situation und weg von diesem Mann.
Während ich im Bett auf dem Rücken lag und fassungslos an die Wand mit dem rot flimmernden LED-Streifen starrte, erinnerte mich das Licht an meine innere Wut, die erbarmungslos in mir hochstieg und wie eine Flasche Cola mit Corega Tabs sprudelte. Ich hasste dieses Gefühl, denn ich wusste, dass ich nicht in der Lage war, es zu kontrollieren und zu drosseln.
Das war nicht der Abend, den ich mir vorstellte, denn dieses Rot verursachte mittlerweile keine Erotik mehr, sondern förderte meine Aggression und meinen Fluchtreflex.
Ich haue ab.
Dieser Gedanke war so schnell da, dass ich eine Sekunde später schon handelte. Ohne weitere Worte zog ich meinen Schlafanzug aus und suchte mein Kleid, das irgendwo neben dem Bett lag. Danach sammelte ich das Bett nach meinen Ohrsteckern ab, die verstreut unter dem Kopfkissen und am Fußende lagen. Mir war alles egal, außer, dass ich nichts in dieser Wohnung vergessen wollte, da ich beschloss, nie wieder zurückzukommen. Für mich war es jetzt nur noch die Wohnung eines impotenten Verlierers und nicht die eines potentiellen Lovers.
Mehrmals checkte ich meine XXL-Handtasche, ob auch alles drin war. Vor Aufregung war ich völlig unkonzentriert und meine Hände zitterten. Auch mein Herz zitterte, weil es dehydriert war und meinen Puls rasen ließ. Ich hatte seit mehreren Stunden nichts gegessen und nichts getrunken. Mein Kreislauf litt spürbar, aber ich ignorierte meinen Körper und versuchte nur meiner verletzten Seele zu helfen, indem ich einen Ausweg suchte.
Als ich mir sicher war, dass der Inhalt meiner Tasche komplett war, verabschiedete ich mich von dem Mann, der keinen hochbekam und der nicht wusste, was los ist. Schließlich war er bekifft und in einer anderen Dimension, die nicht meine war. Er war in einem psychedelischen Dämmerzustand, in dem alles immer so schön ist. Alles so schön unrealistisch vor allem. Ich konnte dieses Hippie-Gerede nicht mehr ertragen und die verweichlichten Folgen im Genitalbereich schon gar nicht. Hippies wollen nur kuscheln, denn zu mehr sind sie gar nicht fähig.
Mein Abschied bestand aus einem Satz, in dem ich sagte: „Sowas hab ich noch nie erlebt, du Arsch.“ Am liebsten hätte ich dabei noch auf sein schlaffes Ding gezeigt, um den Satz bedeutender zu machen. Aber da er seinen Kopf im Kopfkissen vergrub, war er sowieso blind. Und taub. Er gab mir keine Antwort. Wahrscheinlich dachte er, dass alles nur ein Traum ist und dass ich, wenn er wach wird, nackt neben ihm liege und ihn sanft streichele. Schließlich ist jede Berührung ein Geschenk und ein kleiner Orgasmus. Kiffende Männer brauchen nämlich keinen Penis mehr, weil Kuscheln der bessere Sex ist.
…Definitiv…
Ich zog ab, ohne noch einmal einen Blick in den Badezimmerspiegel zu werfen. Da ich kaum geschminkt war, hatte ich nichts zu befürchten. Nur unsichtbare Spucke und ein paar Stressflecken im Gesicht. Aber in Berlin guckt dich eh niemand an, wenn du im Chaos der Stadt untergehst.
Ich war froh, dass ich die passende Kleidung trug, die meinen Oberkörper und meine Füße warmhielt. Meine Beine mussten sich allerdings an die niedrigen Temperaturen gewöhnen, da sie nur von einer dünnen Strumpfhose bedeckt wurden. Eigentlich sollte ich um diese Zeit unter einer warmen Bettdecke neben einer voll aufgedrehten Heizung liegen. Aber ich entschied mich für die harten Konsequenzen einer spontanen Flucht.
Es war eine Flucht ins Unbekannte. Hinaus aus einer vertrauten Wohnung eines bekannten Kiffers und hinaus in das Leben fremder Penner, die auf der Straße ihren Schlafplatz haben und einem gierig hinterherschauen oder obszöne Begriffe von sich geben.
Es war zwar nicht das erste Mal, dass ich eine Nacht auf der Straße verbrachte. Aber es war trotzdem anders. Ein Winter ohne Schnee kann auch kalt sein, wenn man nicht viel Speck mit sich herumträgt und alleine ist. Wenn man nur sich hat und durch niemanden abgelenkt wird.
Ich wusste nicht, wo ich hin sollte. Diesmal setzte ich mich auf keine Bank, auf der ich verharrte und geduldig wartete, bis der Morgen anfing. Es war zu kalt, um zu warten und es war zu kalt, um sich irgendwo hinzulegen. Hier war es nachts überall laut. Das kannte ich von zu Hause nicht. Da war es nachts still und die Straßenbahn fuhr erst ab vier Uhr, außer am Wochenende.
Eigentlich hätte ich mir ein Hotel suchen können, bei all der Auswahl um mich herum. Vielleicht wäre eines dabei gewesen, das nicht mein ganzes Budget vernichtet hätte. Aber ich bin einfach kein Hotelmensch, wenn es nicht gerade um Urlaub geht. Ich wollte nicht für paar Stunden ins Hotel, denn für mich war das Geldverschwendung. Es lohnte sich einfach nicht und die fehlende Nacht konnte ich zu Hause auf meiner Couch unter meiner extrawarmen Decke nachholen. Darauf freute ich mich schon und musste bei dem Gedanken grinsen.
Also ging ich ziellos die Straßen entlang, um die nächsten acht Stunden herumzukriegen und um in Bewegung zu bleiben, damit mir nicht kalt wurde. Das Gefühl, so orientierungslos zu sein, machte mir Angst. Allerdings konnte ich mein Handy auch nicht die ganze Nacht anlassen, da ich später noch genug Akku brauchte, um den Busfahrer auf dem Display mein Ticket zu zeigen, das per App funktionierte. Mein Handy frisst viel Akku. Deshalb nutzte ich mein Handy-Navi nur sporadisch und laut Navi war die Bushaltestelle für mich unendlich weit entfernt. Aber dennoch zu Fuß erreichbar. Für jemanden, der sich auskannte, war das keine Herausforderung. Aber dieser Jemand war ich leider nicht. Sondern ich war eher ein Niemand.
Die nächtliche Kälte zog stur an meinem Körper und ich fror langsam. Es war nicht windstill, verdammt..!
Außerdem kamen Zweifel auf, nachdem ich ungefähr zwei Stunden pausenlos unterwegs war. Hätte ich die paar Stunden nicht doch noch bei ihm aushalten können? Immerhin war nichts Schlimmes passiert, bei all seiner lethargischen Inaktivität. Ich war lediglich wütend auf sein verkuscheltes und stumpfsinniges Verhalten. Aber es war nicht lebensbedrohlich und somit kein richtiger Grund, abzuhauen.
Und dennoch hielt ich es nicht aus. Ich hätte dort keine einzige Stunde mehr verbringen können, weil ich mich nicht wohlfühlte zwischen den Räucherstäbchen und dem Kiffzeug, das man überall roch. Mir waren die giftigen Abgase der Stadt lieber, die ich unwillkürlich inhalierte und den Geruch nur unbewusst durch meine Nase aufnahm. Die Großstadt roch besser, als dieses von Drogen vernebelte kleine Zimmer.
Ich durchquerte viele Straßen und passte an jeder Ampel auf, nicht vor ein unaufmerksames Auto zu geraten, da die Farben der Ampeln hier teilweise von den Autofahrern ignoriert wurden. Irgendwie waren es die Taxifahrer, die gern etwas drängelten, weil sie unter Zeitdruck standen.
Wenn ich nicht gerade eine Kreuzung überquerte, was sehr oft vorkam, schaute ich mir flüchtig die Schaufenster an. Denn davon gab es auch genug. Berlin hat ein Überangebot an Konsumartikeln.
In der Nacht fiel es mir leichter, an Schmuckläden vorbeizugehen, da sie alle geschlossen hatten und ich somit nicht in Versuchung kam, etwas zu kaufen, so wie sonst immer. Ich komme an keinem dieser Läden vorbei. Jetzt konnte ich nur stehenbleiben und fasziniert beobachten, wie die Diamanten im Licht des Schaufensters in allen Farben schimmerten. Für mich ein fast hypnotisierender Anblick. Ich liebe Diamanten.
Die Stunden vergingen trotzdem wie in Zeitlupe und mein Blick huschte regelmäßig auf die Uhr, um zu gucken, wie lange ich noch durchhalten muss. Die Zeit verging nicht und ich rechnete aus, in wie vielen Stunden ich zu Hause bin oder was ich in einem Tag um diese Uhrzeit mache: Arbeiten. Morgen musste ich also unbedingt wieder zu Hause sein, denn sonst konnte ich mich auf eine Abmahnung freuen.
Immer wieder kamen mir auch andere Menschen entgegen, die nicht so verwirrt waren, wie ich. Ich hätte niemanden nach dem Weg zum Busbahnhof fragen brauchen, es hätte mir eh nicht geholfen. Die vielen Straßen und die bunten Lichter brachten mich einfach durcheinander. Überall leuchteten Lampen und die Stadt gab rauschende Geräusche von sich. Um mich herum herrschte fremde Anonymität. Ich musste alleine zusehen, wie ich klarkomme. Sehr bedrückend.
Nach einer Weile schaltete ich mein Handy wieder ein. Es kamen einige Nachrichten an, aber nicht von meinem Fluchtort. Dort blieb es still und niemand machte sich Sorgen um mein Wohlergehen.
Mein Navi zeigte mir an, wo ich war und wo ich hinmusste. Ich sah einen langen roten Strich, der meist nur geradeaus ging. Eigentlich nicht besonders schwierig. Ich setzte mich kurz auf eine Treppe, damit ich besser und entspannter nachdenken konnte. Auf dem Navi sah gerade alles so einfach aus und die Uhrzeit verdeutlichte mir, dass ich inzwischen schon recht lange unterwegs war. Es war fünf Uhr morgens und ich irrte bereits einige Stunden sexuell unterkühlt durch die Stadt. Mein Bus fuhr um neun Uhr. Damit war ein Ende langsam in Sicht, wenn ich es bis dahin schaffte, die Haltestelle zu finden.
Allmählich merkte ich auch, wie erschöpft ich war. Mein Bauch war leer und ab und zu machte sich ein leichtes Schwindelgefühl breit. Es fühlte sich alles so dumpf und komisch in mir an. Außerdem schwitzte ich. Auf meiner Stirn versammelten sich unzählige kleinperlige Tröpfchen. Ich war kaltschweißig und das war ein Zeichen, dass gerade alles zu viel für meinen zierlichen Körper war, dessen wertvolle Bedürfnisse ich in dieser Nacht missachtete. Ein fortschreitender Schockzustand kündigte sich an. Und mir war klar, was ich brauchte: Essen und Trinken.
Ich hatte Lust auf einen Mc Flurry von Mc Donald’s und stellte mir vor, dieses Eis jetzt in dieser Kälte zu essen. Eis im Winter, irgendwo auf einer Bank unter einer Laterne. Ich wollte nichts anderes, als das, obwohl mir kalt war. Diesen widersprüchlichen Gedanken konnte ich mir nicht erklären, da ich Kälte ansonsten nicht mochte. Aber ich hatte einfach Heißhunger auf etwas Süßes und Durst auf Milch. Wahrscheinlich war mein Kreislauf schon so zerstört, dass solche Notgelüste daraus resultierten. Ich hoffte, dass ich diese Lust bald am Busbahnhof befriedigen konnte, denn dort gab es einen Mc Donald’s, der von außen aussah, wie eine normale Imbissbude.
Die Straßen wurden zusehends voller und der Berufsverkehr erwachte. Dadurch fühlte ich mich bald weniger allein und das beförderte mich wieder mehr ins normale Alltagsleben zurück. Auch in den Häusern sah ich Licht und es beruhigte mich, dass ich meinen Schlaf bald im Bus nachholen konnte, wenn all diese Leute zur Arbeit mussten.
Meine zunehmende Müdigkeit und Schwäche sorgten dafür, dass ich in einem psychischen Ausnahmezustand war, der mich überreizte. Ich spürte, dass jeder neue Eindruck zu viel war und dass alles anfing, mich zu nerven. Auf einmal hasste ich diese hupenden Autos, die mit ihren Reifen auf der Straße quietschten, weil sie schnell bremsen mussten.
Der ganze Verkehr war Stress für mich und ich war mir sicher, dass ich meinen Führerschein in dieser Stadt vergessen konnte. Dieses riskante Abenteuer würde ich niemals wagen.
Wieder schaute ich auf mein Navi und auf die Uhr. Je mehr draußen los war, umso schneller verging alles. Zum Glück war es bis zum Ziel nicht mehr allzu weit. Irgendwann nahm ich den Gehweg nur noch durch einen engen Tunnelblick wahr. Nur selten verflüchtigte sich mein Blick auf andere Personen, da ich mich sowieso unwohl fühlte, in meiner schläfrigen und verpeilten Verfassung. Aber wahrscheinlich wäre dieser Anblick auch jedem egal gewesen, da in Berlin weitaus schlimmere Gestalten herumlaufen und ich wohl noch zu den halbwegs ‚Normalen‘ zählte.
Ich näherte mich dem Busbahnhof, den ich von weitem durch Schilder erkennen konnte. Okay, jetzt konnte ich ihn nicht mehr verfehlen und spürte endlich wieder eine aufkommende Sicherheit in mir. Ich war nicht mehr verloren und mein Handyakku reichte noch für die restliche Stunde.
Als ich dichter an den Bahnhof kam, wurde die ganze Lage wieder etwas unübersichtlich, da ich den Bahnhof zuerst mit einem anderen Gebäude verwechselte. Erst als ich vorsichtig zur rechten Seite schaute, merkte ich, dass ich auf der falschen Straßenseite war. Zu meiner absoluten Sicherheit sah ich auch schon einige Busse dort rechts an den Haltestellen stehen. Anschließend suchte ich nach einer passenden Stelle, um über die riesige Straße zu kommen. Die nächste Ampel war noch mehrere Meter entfernt. Aber Hauptsache, sie war da, denn ich hatte große Angst, erneut über die gefährliche Straße laufen zu müssen.
Ich war erleichtert, als ich mein Ziel erreichte. Mein Körper rebellierte unheimlich. Meine letzte Kraft verschwand sofort bei meiner Ankunft. Und dennoch konnte ich nicht ruhen, da ich erst wissen wollte, von welcher Stelle der Bus genau fuhr. Ich hatte nämlich keine Lust, noch länger hier sitzen zu bleiben und eine weitere Stunde zu warten.
Aber ab jetzt war alles einfach. Die Anzeigetafel und die Lautsprecheransagen waren meine Helfer und ich konnte endlich mit meinem kranken Gesichtsausdruck zu Mc Donald’s gehen. Kurz fühlte ich mich wie bei einem Arztbesuch, bei dem meine Medizin aus zwei Varianten bestand.
Der Mc Flurry stand immer noch in der engeren Auswahl. Aber ich entschied mich spontan für einen großen Vanille-Milchshake. Das war Eis und Milch zusammen, in einem unkomplizierten Becher zum Trinken mit Strohhalm. Optimal für meinen geschwächten Körper, der jetzt nur noch eine Hand zum Halten brauchte.
Ich stellte mich mit meinem Getränk ins Abseits und beobachtete müde das Geschehen. Allerdings konnte ich auch diesmal nicht ruhig bleiben und ging von einer Haltestelle zur anderen und verglich die Abfahrten mit der Nummer auf meinem Ticket. Dabei merkte ich, dass Abfahrzeit und Nummer nicht übereinstimmten. Aber da noch genug Zeit war, machte ich mir keine unnötigen Gedanken und setzte mich in die beheizte Wartehalle, in der ich alles exakt im Überblick hatte. Mein Blick fixierte danach fast nur noch die orange leuchtende Anzeigetafel, um keine wichtige Änderung zu verpassen.
Zum anderen tat es gut, zwischen all den fremden Menschen zu sitzen und nicht mehr so einsam zu sein. Wahrscheinlich froren sie auch alle und kannten unangenehme Erfahrungen. Vielleicht waren sie auch gerade auf einer Flucht, denn teilweise sah es ganz danach aus.
Nach einer Viertelstunde kam die lang erwartete Ansage meines Busses und ich war happy, dass diese frustrierende Reise nun ein Ende hatte.
Beim Einchecken gab es keine Probleme und der Fahrer heiterte mich mit seiner lockeren Art etwas auf. Wahrscheinlich war sein Leben auch nicht immer leicht. Aber alles geht weiter und manchmal auch viel besser, als vorher. Zumindest bei anderen Menschen.
Als ich im Bus saß, spürte ich, wie mein Körper in den Sitz sackte und meine Beine kribbelten. Es war eine enorme Erleichterung, in den nächsten zwei Stunden nichts machen zu müssen und vielleicht ein bisschen schlafen zu können. Der Platz neben mir blieb frei und meine letzte Hoffnung erfüllte sich damit. Ich wollte einfach nur noch meine Ruhe haben und von niemandem mehr angequatscht werden.
Nachdem ich wieder etwas zu mir kam, nahm ich mein Handy und löschte selbstbewusst seine Nummer. Denn ich hatte keinen Bock auf weiteren Kontakt. Für mich hatte sich die Sache nach der bescheuerten Nacht erledigt und ich wusste, dass er sich nicht ändern würde und weiterhin so verkifft blieb. Als die Nummer weg war, fühlte ich mich besser und losgelöster. Irgendwie war ich nicht einmal traurig, denn ich hatte nichts verloren.
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.
Auch als der Zug längst verschwunden war, blickte Lennard dem Nichts hinterher. Als die Bahnhofsuhr zwei Mal dumpf schlug, zuckte er zusammen. Zwei Uhr, mitten in der Nacht im Winter. Die Kälte zog bis in die Halle. Er empfand nichts außer dem Schmerz, der sich tief in seine Seele fraß. Eine Stunde lang stand er wie gelähmt in der Halle und rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis die Schachtel leer war. Der Qualm konnte seine Gefühle nicht betäuben. Dafür brachte er Übelkeit hervor und Lennard beschloss, langsam nach Hause zu gehen. Der eisige Wind fuhr durch seine langen Haare und kühlte sein vor Kummer glühendes Gesicht. Die zarten Schneeflocken auf seinen Wangen spürte er nicht. Küsse fühlten sich für ihn anders an. Aber die Küsse, nach denen er sich sehnte, bekam er nicht mehr.
An der Haustür erwartete ihn bereits seine aufgeregte Mutter. Sie trug nur ein leichtes Nachthemd und war ganz blass vor Schreck.
„Lenni, wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du kannst doch nicht einfach so abhauen!“
„Geh weg, ich will niemanden sehen jetzt“, sagte Lennard gereizt und schubste seine Mutter sanft beiseite.
„Lenni!“
Doch Lennard hörte ihr nicht mehr zu und ging in sein Zimmer, wo er sich gleich auf sein Bett fallen ließ, in seinem verschneiten Parka und mit den matschigen Straßenschuhen. Ihm war alles egal. Als er das rote Stand-By-Lämpchen an seinem Fernseher leuchten sah, erinnerte er sich wieder an die roten Lichter des abfahrenden Zuges. Für ihn war dieser Abschied der schlimmste Moment seines Lebens gewesen. Es war der Abschied von seiner ersten richtigen Freundin und ersten großen Liebe – Frieda. Sie war sehr spontan und rebellisch, das liebte er an ihr. Aber diesmal hasste er es. Ihr letzter Satz brannte sich in sein Gehirn: Es gibt mehrere große Lieben im Leben, man muss nur die Richtige finden.
Er war nicht der Richtige für sie, trotz der drei langen aufregenden Jahre. Noch nie hatte sein Herz so wehgetan wie jetzt. Weinen konnte er nicht, das war Mädchenkram für ihn.
Als sein Handy leise in der Tasche vibrierte, hoffte er, dass es eine SMS von Frieda war. Auf dem Display stand: Hey, koppf hoch,..Wirst schon drüba hinwegkommen. Du findest schon ne andere, jeder ist doch iwie austauschbar, oder? lg
Lennard beschloss, nicht zu antworten und zu schweigen. Er konnte nichts an ihrer Entscheidung ändern und musste ihre Meinung akzeptieren. So oberflächlich sie auch klang, als ob er ihr nichts bedeutete. Er war zutiefst enttäuscht und gekränkt.
Dennoch liebte er sie, mit all ihren verrückten Fehlern und wahnsinnigen Stärken. Lennard hatte keine Ahnung, wie er die Nacht verbringen sollte, ohne an sie zu denken. Er griff unter sein Bett und holte eine Flasche Bier hervor, obwohl er gerade Lust auf etwas Härteres gehabt hätte. Irgendwann schlief er erschöpft ein.
Am nächsten Morgen klopfte seine Mutter an seine Zimmertür.
„Lennard, guck mal, wer hier ist. Besuch für dich.“
Vor ihm stand Frieda, die über das ganze Gesicht strahlte, mit all den glitzernden Schneeflocken auf der grünen Strickmütze. Ihr Mantel war genauso rot wie die Lampen vom Zug.
„Ich hab dich so vermisst, Lenni“, sagte Frieda und umarmte Lennard innig, „das Taxi steht noch vor der Tür. Hast du bisschen Kohle?“
Lennard nahm Frieda in den Arm und sagte: „Du durftest mich gerne arm machen, solange ich dich behalten konnte. Du bist mein größter Reichtum. Gewesen.“
Mit diesen Worten ging Lennard entschlossen in sein Zimmer, auch wenn es ihm schwerfiel. Ihr sprunghaftes Verhalten konnte er Frieda jedoch nicht verzeihen. Der Zweifel an ihrer Liebe und ihr sprunghaftes Verhalten war ein großer Vertrauensbruch, der ihre Beziehung in der Basis zerstörte. Lennard konnte das nicht zulassen und wollte seinen Stolz nicht verlieren. Er konnte ihr nicht verzeihen. Männer müssen so etwas verkraften können, dachte er sich. Auf welche Art auch immer.
Eines Abends ging Lennard wieder zum Bahnhof. Er liebte dieses Gefühl der Sehnsucht, wenn die Nachtzüge den Bahnhof verlassen und er liebte das Gefühl der Hoffnung, dort eines neues Mädchen kennenzulernen. Ein Mädchen in einem roten Mantel. Liebevoll, charmant und vielleicht ein bisschen verrückt.
Dabei haben wir momentan gar keinen richtigen Winter, sondern eher einen kalten Frühling.
Trotzdem ändert das nichts an meinem derzeitigen Gemütszustand.
Ich könnte bei dem Wetter täglich Sport machen, wie sonst auch.
Aber ich finde jeden Tag einen anderen überzeugenden Grund, es nicht zu tun.
Irgendwie habe ich das neue Jahr noch nicht verinnerlicht.
2014? Nein.
Ich fühle mich, als wurde ich vom alten ins neue Jahr geschleudert, ohne es gewollt zu haben. Seitdem empfinde ich alles, was ich tue, als komisch. Dabei sind es genau die Dinge, die ich sonst auch getan habe und viel Spaß daran hatte. Eine Erfüllung in den Dingen sah, die ich täglich mit großem Eifer tue. Aber nun werde ich von der Farbe schwarz umhüllt. Geschmückt mit einzelnen Glitzerpailletten.
Auch geht mir diese ewige Dunkelheit inzwischen völlig auf die Nerven. Ich weiß gar nicht, wie die Leute das in Finnland aushalten. Wahrscheinlich genauso wenig, weswegen die Selbstmordrate entsprechend hoch ist.
Eine Weile ist es schön, wenn es früh dunkel wird, man seine Fensterbeleuchtung anschmeißt und zu Hause überall Duft-Kerzen anzündet. Nun sind alle übrigen Kerzen abgebrannt, die Düfte verflogen und ich vermisse die Sonne.
Dennoch bessert sich meine Stimmung im Laufe des Abends und ich komme in Hochform, werde aktiv bis spät in die Nacht. Bis ich dann irgendwann einschlafe und gegen Mittag wieder matschig aufwache. Gar keine Lust, aufzustehen. Manchmal denke ich, ich könnte den ganzen Tag schlafen oder halbwach im Bett liegen bleiben.
Bis meine innere Stimme mir zuflüstert: „Lass‘ dich nicht gehen! Das Bett ist keine Lösung!“
Also stehe ich unmotiviert auf, füttere meine hungrige Katze und gehe schwermütig ins Bad.
Der erste Blick in den Spiegel ist vernichtend. Auf einmal habe ich an meinem ganzen Gesicht etwas auszusetzen. Bin unzufrieden, mit mir, meinem Körper und meinem Leben. Momentan kann ich es mir selber überhaupt nicht recht machen, obwohl ich im Normalzustand von meinem Leben schwärme oder es zumindest echt toll finde.
Beim Schminken versuche ich dann das Beste aus meinem Gesicht herauszuholen.
Bis mein Blick auf meine Haare fällt. Der nächste Schock folgt. Es kommen Fragen auf:
Ist das die richtige Frisur? Die passende Haarfarbe? Wie kann ich mich verändern?
Auch nachdem ich mir etliche Trendfrisurenmagazine angesehen habe, finde ich keine Antwort. Die Frauen darin sehen alle viel hübscher aus. Blah blah blah.
Also was mache ich nun? Genau, in die Küche gehen und mir etwas zu essen machen.
Natürlich nichts Gesundes. Schließlich habe ich Heißhunger auf alles, was süß ist und genug Fett hat. Auch das nervt mich gerade sehr. Ich bin gar nicht der Typ, der sich den ganzen Tag mit Essen beschäftigt.
Nach dem Essen bin ich dann genauso launisch wie davor. Diese Laune zieht sich dann in Höhen und Tiefen über den Tag.
Ich bin innerlich angespannt, spiele nervös mit meinen Fingern herum und denke auf meiner Couch intensiv über die Zukunft nach.
Eigentlich habe ich einen super Job. Aber eigentlich könnte ich auch etwas ganz anderes machen, was mehr zu mir passt. Unentschlossenheit.
Ja, solche Gedanken gehen mir durch den Kopf. Sie kommen und sie verschwinden. Am nächsten Tag kommen viele neue Gedanken, die bald wieder vergessen sind.
Es ist schlimm, sein inneres Gleichgewicht zu verlieren. Man fühlt sich elendig krank, gespickt mit Minderwertigkeitskomplexen.
Aber nach jedem Tief folgt ein Hoch.
Einen Joker habe ich noch: Ich bin ein Optimist, der auf der Flucht vor dem Pessimismus ist.