Ein Tag Frühling

März

Als ich heute Morgen aufwachte, durchfluteten bereits warme Sonnenstrahlen mein Zimmer und in mir machte sich ein befreiendes Gefühl der Freude breit. Endlich Sonne, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr so intensiv gespürt habe, weil sie hinter dicken Wolken schien und ihre Wärme verborgen blieb.

Ich war glücklich, mal keine dunklen Wolken zu sehen, denn das ständige Grau ging mir mittlerweile auf die Nerven und drückte negativ auf meine Stimmung. Jede Jahreszeit ist schön, aber zu viel Winter gefährdet meine Laune und legt mich lahm, vor allem emotional. Dabei habe ich als Kind den Winter geliebt und das nicht nur wegen der Schneeflocken. Eigentlich bin ich ein Winterkind. Allerdings ist davon nicht mehr viel übrig geblieben, bis auf den schlafenden Steinbock in mir, der nur noch als symbolisches Sternzeichen in Erscheinung tritt und nahezu passiv agiert.

Ich schaute aus dem Fenster und sah zum ersten Mal den zarten Frühling in diesem Jahr, obwohl er noch nicht begonnen hatte. Aber heute zeigte er sich für einen Tag in seiner ganzen Schönheit. Die Luft, die leicht durch mein angekipptes Fenster zog, war mild und sanft. Keine Spur von harter Kälte und schroffem Wind. Einige Vögel zwitscherten schon vereinzelt, die sich irgendwo in den Bäumen zwischen den anderen Häusern versteckten. Draußen liefen übermütige Leute im dünnen Pullover herum, als sei es völlig selbstverständlich und man konnte denken, dass es in den nächsten Tagen nicht anders sein würde. Denn heute war Frühling. Außerdem hörte ich kaum ein Auto auf der Straße. Alles war ungewöhnlich ruhig und friedlich, wie es sich für einen anständigen Sonntag gehörte.

Das helle Licht in meiner Wohnung sorgte für Tatendrang und das merkte ich unmittelbar nach dem Aufstehen. Alles ging viel leichter von der Hand und ich musste nicht lange nachdenken, ob ich heute z.B. putze oder nicht. Schließlich wurde der Staub von der Sonne gut erkennbar angestrahlt und zeigte mir die Schwachstellen in den Ecken, ohne meine Augen dabei anstrengen zu müssen. Alles war easy und machte Spaß, nichts kostete Überwindung oder gar Ärger. Ich schmiss den Haushalt mit Euphorie und Enthusiasmus.

Keine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Es gab nichts anderes, als die Farbe Blau, gefüllt mit Wärme und Licht. Wenigstens für einen Tag.

Als ich meine Balkontür öffnete, um Wäsche aufzuhängen, konnte ich es kaum fassen, wie warm es dort war. Durch die aufgestaute Wärme fühlte es sich an, als hätte mir der Hochsommer gerade einen flüchtigen Besuch abgestattet. Ich freute mich über diesen kurzen sommerlichen Vorgeschmack, der hoffentlich nicht mehr allzu lange auf sich warten ließ.

Ich atmete den Duft der frisch gewaschenen Wäsche ein, die angeblich nach Orchideen roch. Ja, es wurde Zeit, dass sich der Frühling blicken ließ, denn so viele Dinge sorgten für Sehnsucht. Wie der falsche Duft von künstlich hergestellten Blumenaromen aus dem Weichspüler.

Nach einer Tasse Kaffee, drängte sich der Aktivitätstrieb noch stärker in mir auf. Koffein und Sonne zeigten ihre energetische Wirkung und ließen mich nicht mehr still sitzen. Mir war jedoch auch ohne Kaffee klar, dass ich heute unbedingt raus musste. Ich als Fahrrad-Junkie hatte nur auf diesen Moment gewartet: Schönes Wetter, ohne viel Wind, der mir fies ins Gesicht pustete und versuchte, mich unlieb vom Fahrrad zu drücken. Ich hasste Wind von einer Stärke ab 21 km/h.

Was nur noch fehlte war witterungsangepasste Frühlings-Kleidung. Also entschied ich mich für Shorts aus Webstoff und blickdichten Leggings. Darüber ein T-Shirt mit Blumen und eine dünne Baumwolljacke in schwarz, um es nicht zu übertreiben. Für die Füße gab es diesmal ausnahmsweise flache Sportschuhe, die ich sonst nie trug. Die Strickmütze durfte heute zu Hause bleiben, auch wenn es mir anfangs schwerfiel, auf dieses Lieblingsstück zu verzichten. Ich dachte, dass sie nicht nötig war und mich der Wind in Ruhe ließ.

Es war ein tolles Gefühl, nach langer Zeit endlich wieder meine geliebte bernsteinfarbene Retro-Sonnenbrille aufzusetzen. Welch geiler Moment, anders war es nicht zu beschreiben. In meinem Bauch kribbelte es, als ob ich verliebt wäre. Dabei war es nur die Freiheit, die ich nun wieder umso mehr spüren und nutzen konnte. Endlich wieder frische Luft und Natur, die ich so sehr vermisste.

Ich wurde ungeduldig, als ich ein paar Minuten vor der roten Ampel warten musste. Heute stand sie gefühlsmäßig viel länger auf Rot, als sonst. Als endlich grün war, konnte ich es kaum erwarten, loszufahren. Die letzte Tour war zwei Monate her – es war eisig kalt und ich inhalierte nur nebelige Luft. Heute war es anders, an diesem sonnigen Frühlingstag.

Auch andere Leute zog es nach draußen. Sie hatten ebenfalls keine Lust, faul und vollgefressen auf der heimischen Couch vorm blöden Fernseher zu liegen. Richtig so. Nach einigen Metern merkte ich allerdings schon, wie stark der Wind von vorne kam und mir das Fahren erschwerte. Aber es war mir egal, dafür hatte ich auf dem Rückweg weniger zu tun. Der Wind schaffte es nicht, meine Motivation zu stoppen. Ich suchte schließlich keine Ausrede, um Sport raffiniert aus dem Wege zu gehen. Nach einer Weile vergaß ich den Wind sogar, denn durch die Musik aus meinen Ohrstöpseln konnte ich ihn gut ignorieren, obwohl er sie mir beinahe aus dem Ohr blies.

Um mich herum war kein Winter zu sehen. Kein Schnee im Gebüsch, kein Frost in der Luft und kein vereister See in der Nähe. Das Gras war grün, aber die Bäume waren leider noch etwas kahl und wurden nicht von prächtigen Baumkronen geschmückt. Aus dem Gras in den Vorgärten schauten kleine Schneeglöckchen hervor, die sich noch nicht richtig heraustrauten. Die Krokusse blieben mir noch vorenthalten, denn ich sah sie nicht oder ich war zu blind, in meiner Wintersmüdigkeit, die mich derzeit noch mit ihrer unangenehmen Gesellschaft bedrückt und mich erst dann verlässt, wenn der Frühling in voller Montur ist. Bitte bald.

Als ich nach einigen Stunden wieder zu Hause war, wurde es schon langsam dunkel. Es machte mich etwas traurig, als mir bewusst wurde, dass dieser schöne Tag nun zu Ende war und ich nicht wusste, wann die Sonne zurückkehrt. Ich schloss alle Fenster, denn auf die abendliche Abkühlung in meiner Wohnung wollte ich lieber verzichten. Nur im Schlafzimmer durfte sie bleiben. Danach machte ich mir einen Tee und als ich mich hinsetzte, sah ich, dass meine Hose ein Loch hatte. Wahrscheinlich wurde sie nun endgültig vom Sattel aufgescheuert. Die Hose hatte schon einige Jahreszeiten erlebt und diese Tour war wohl ihre Letzte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zu Hause im Fernweh

Noch immer nicht richtig zu Hause, aber auch nicht mehr im Hotel. Die lange Strecke von Schottland zurück nach Deutschland hatte mir ganz schön mein inneres Gleichgewicht verdreht.

Mein Herz war noch nicht vollständig in der alten Heimat angekommen und meine Gefühle waren noch leicht verweht von der langen See- und Busfahrt. Ein kurzer Flug hätte sicher ähnliche Folgen gehabt, mit zusätzlichem Mini-Jetlag.
Die heimatliche Verbundenheit schlummerte noch tief in mir, wollte noch nicht erwachen. Stattdessen kribbelte das Fernweh wie verrückt. Der Urlaub in Schottland war wunderschön, sodass er mich das normale Leben erst mal vergessen ließ und ich den Eindrücken eine ganze Weile nachhing, bis ich sie halbwegs verarbeitet hatte. Zeitweise fühlte ich mich wie erschlagen von all den schönen Erlebnissen, an die ich immer wieder denken musste.
Das sofortige Basteln eines neuen Fotoalbums hätte mir sicherlich schnell Erleichterung verschafft, denn dort hätte ich meine tollen Erfahrungen einkleben und bunt gestalten können. Aber für die kreative Ballastentsorgung hatte ich leider noch keine Zeit.

Ich fühlte mich Tage später immer noch neben der Spur.
Während ich meine übliche Radtour auf gewohnten Wegen machte, fühlte ich mich seltsam. Alles um mich herum hatte einen subtilen Touch und wirkte etwas befremdlich. Hier war es längst nicht so wie in Schottland, nein. Die einzige Gemeinsamkeit war das diesig nebelige Wetter, mehr konnte ich nicht finden. Und auch die Luft roch kein bisschen nach frischem Atlantik, sondern nach ruhiger Ostsee. Darin gab es einen überraschend großen Unterschied. Die Atlantikluft war stärker, intensiver und gab mir viel mehr Kraft. Dagegen kam die Ostsee, die im Vergleich wie ein kleiner See wirkte, nicht an.

Beim Radfahren durch den einsamen Herbstwald nahm ich meine Umgebung nur gedämpft wie durch einen Filter wahr, denn vor meinen Augen tauchten wiederholt die Eindrücke meines Urlaubs auf. Ein Bild nach dem anderen, wie eine schnelle Diashow. Welch fotografisches Gedächtnis. Ein leises Gefühl der Sehnsucht beschlich mich, obwohl mir bewusst war, dass ich hier her gehörte, da jeder seinen Ursprung fest in sich trägt.

Bei uns waren die Wälder noch grün, in Schottland kehrte schon langsam zart der goldene Herbst ein. Die Straßen waren oft nass, denn es regnete nach Zufallsprinzip: Mal kurz, mal länger und dann wieder Pause. Die Sonne ließ sich seltener blicken, aber wenn, dann warfen die Wolken ihre Schatten auf die Highlands und zogen dort geheimnisvoll vorüber. Es war das reinste Schattenspiel. Die Wolken verdeckten die Sonne wieder so schnell, dass sie die Funktion eines An- und Ausschalters übernahmen. Durch sie drang die Sonne nicht mehr hindurch und sie tauchten alles in diffuse Dunkelheit.
In Schottland gab es zerklüftete Küsten, niedliche winzige Inseln, unzählige Seen, schroffe Felsen, sanfte raue Berge, Höhen mit Spitzen, versteckte Schluchten und unendliche Freiheit, die einen im Nu verschlingen konnte. In der Freiheit war es leicht, ein Niemand zu werden.
Zu Hause gab es all das nur in stark eingeschränkter Form. Und trotzdem gehörte ich hier her.

Manchmal möchte ich die stressigen Phasen des Lebens gern gegen die Einsamkeit eintauschen. Aber würde es mich auf Dauer glücklich machen? Wohl eher nicht. Ich gehöre nicht unbedingt zu den Eremiten. Trotzdem schaute ich mir mit Wehmut die stark abgelegenen Häuschen und die vergessenen Dörfer in den Highlands an. Leute, die in der Abgeschiedenheit zu Hause waren und die Natur jeden Tag aufs Neue spürten. Sie kannten es nicht anders.

Manchmal möchte ich gerne Teile des modernen Lebens zurücklassen, um wieder mehr zu mir zu finden.
Ein einfaches Leben ohne viel Technik und ein bisschen hinter der Zeit leben. Keine Leute sehen, die beim Laufen auf ihr Handy starren und zu blind sind, um die Realität um sich zu bemerken. In Schottland gab es zwar auch den technischen Fortschritt und Modernisierung, aber eher in der dezenten Variante. Ich hatte das Gefühl, Technik und Status hatten dort nicht so einen hohen Stellenwert. Die Menschen wirkten bescheiden und sehr zufrieden. Sie legten mehr Wert auf echte Gesellschaft und setzten auf die Hilfsbereitschaft ihrer Mitmenschen.
Dort zählten keine Statussymbole, sondern Nähe.
Und ich hörte oft das Wort ’sorry‘. Sie entschuldigten sich für Dinge, die eigentlich gar nicht passiert sind.

Aus Fernweh könnte jedoch auch Heimweh werden, denn in der Ferne vermisst man nach einiger Zeit vielleicht das, was man kennt und dort womöglich nicht bekommt oder nur unter erschwerten Bedingungen.
Ich schätze das Leben in Schottland in seiner Natürlichkeit wirklich sehr. Aber die große Freiheit stellt auch Abhängigkeit dar. Die Abhängigkeit, zu überleben. Die atemberaubenden Wandertouren bergen viele Gefahren, da das Wetter unberechenbar sein und den Tod bedeuten kann.
Ohne Auto wäre man verloren, sofern man nicht in einer größeren Stadt lebt.
Und gab es nur einen Zug? Mir kam es so vor, als gäbe es nur eine eingleisige Bahnlinie in diesem Land.
Zu Hause ist alles in greifbarer Nähe, aber nicht so in Schottland – scheinbar.

Schottland ist ein Land, in dem ich gerne Gast bin und von dessen Landschaft ich träume. Aber Heimat ist da, wo ich zu Hause bin.
Ja, so ist es tatsächlich. Auch wenn ich es früher nie wahrhaben wollte.

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