Der Hinterwäldler 

  
„Rudi, komm wieder zurück“, rief ich meinem Hund zu, der hektisch durch das Herbstlaub auf eine abgelegene Hütte im Wald zulief. Er hörte einfach nicht auf mich, obwohl er gut erzogen war. In dem Moment fragte ich mich, warum ich diesmal diese Strecke zum Spazieren wählte, da mir dieser Wald nie ganz geheuer war, denn hier war wirklich niemand und ich war sehr ängstlich. Inzwischen stand Rudi bellend vor der alten Hütte, die morsch aussah und mit Moos bedeckt war. Die Hütte machte einen verlassenen Eindruck. Wer sollte schon so tief im Wald wohnen, mitten im Nirgendwo?
Rudi scharrte ungeduldig an der Tür, bellte immer wieder und schaute zu mir hoch. Ob er etwas wahrnahm? Ich guckte durch die schmutzigen Fenster, die teilweise eingeschlagen waren und sah nichts, außer finstere Ecken. Trotz meiner Angst trieben mich die Neugier und das Gefühl, hinein zu müssen, voran. Ich wollte wissen, was der Grund für Rudis Unruhe war.

Als ich um die Ecke lief, fand ich eine Tür, die nicht einmal verschlossen war und rutschte fast auf der glitschigen Treppenstufe aus. Es fing wieder an zu regnen, da kam der Unterschlupf gerade richtig.

Ich machte die Tür vorsichtig und leise auf. Rudi drängte sich durch den Schlitz und wedelte über den feuchten Holzfußboden. Scheinbar waren wir alleine. Es hätte mich auch gewundert, hier jemanden mitten im Abseits zu finden. Die Hütte war mit alten abgenutzten Möbeln eingerichtet und überall lagen Dinge herum, die für so einen Ort ungewöhnlich waren. Feuerzeuge, abgebrochene Holzspieße und etliche verrostete Messer. Der Stapel Kleidung in der Ecke löste in mir Unbehagen aus. Ich nahm einen zerfetzten Pullover in die Hand, der mit dunklen großen Flecken übersät war. Was war das? An Blut wollte ich gar nicht denken.

Als Rudi wieder anfing, zu bellen, erschrak ich mich so sehr, dass mein Herz kurz stolperte. Er stand vor einer kaum sichtbaren Tür in einer dunklen Nische. Diese war mit einem schweren Metallriegel versperrt. Gerade, als ich zu dieser Tür wollte, hörte ich schleppende Schritte von draußen. Oh mein Gott, da kam jemand und ich ahnte, dass dieser Mensch nichts Gutes tat, wenn ihm diese seltsame Hütte gehörte.

Ich suchte ein Versteck, während Rudi nicht aufhörte, zu bellen. Voller Panik schob ich mich hinter den schweren Vorhang am Fenster. Dann kam jemand in die Hütte. Ein seltsame Figur, ganz in Schwarz und sehr dick. Es roch nach Verwesung, als er die Kapuze hinunterzog und seine langen verfilzten Haare zum Vorschein kamen. Mich schauderte es, als sein starrer Blick auf Rudi fiel, der ihn verängstigt anschaute und winselte.

„Wie kommst du oller Köter hier rein“, schrie der Mann und knallte die Faust auf den Tisch. „Hast wohl Fleisch gerochen, was? Hahahaha!“

Dann rannte Rudi mit eingezogen Kopf flink aus dem Haus und war weg. Der Mann schaute ihm hinterher und lachte nur dreckig. Mein Herz raste. Ich flehte inständig, dass er mich in der Dunkelheit nicht sah.

Dann ging der Mann zu der verriegelten Tür. Nachdem er sie öffnete, versank der Raum in einem enormen Gestank aus altem Fleisch und Tod. Er kramte in dem Zimmer herum und kam mit einem großen Haarbüschel wieder. Er roch daran und berührte mit dem Büschel sein Gesicht. Mir wurde schlecht bei dem Anblick und hielt mir die Hand vor den Mund. In dem Raum waren scheinbar menschliche Überreste und wahrscheinlich war er der Mörder. Hier konnte ich nicht bleiben, ich musste raus, bevor er mich fand.

Mein Handy hatte keinen Empfang. Also blieb mir nichts anderes übrig, als auf eine günstige Gelegenheit zu warten. Wenige Minuten später ging er wieder in den anderen Raum. Jetzt musste es klappen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und floh aus meinem Versteck. Mein Herz raste vor Todesangst, als ich aus der Hütte in den Regen rannte und nicht wusste, wohin. Der Wald war mir fremd. „Hey, bleib stehen, du kleines Ding“, schrie er verärgert. Ich rannte hinaus und ich spürte, dass er dicht hinter mir war, da ich seine Schritte und seinen hektischen Atem genau hörte.

Der Wald sah überall gleich aus. Ich versuchte mich zu erinnern und hoffte, dass es die richtige Richtung war. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass er einen langen Holzstab mit Messerspitze in der Hand hielt. Er hielt ihn wie einen Speer. Ich rannte, so schnell ich konnte, in der Hoffnung, dass er wegen seines Übergewichtes aufgab. Dabei konnte ich selber nicht mehr laufen, mein Kreislauf wurde immer schwächer und mein Herz machte Probleme. Es tat unheimlich weh und ich fiel zu Boden. 

Als ich aufwachte, sah ich mich in der Hütte. Wie konnte das sein? Ich stand neben mir und konnte zusehen, wie der Mann meinen Körper in dieses Zimmer voller Fleisch trug. Ich blutete aus einigen Stichwunden stark und war bewusstlos, oder vielleicht sogar tot. Der Mann zog mich aus und schmiss meine Sachen auf den Haufen der anderen Kleidungsstücke. Danach konnte sein makaberes Spiel weitergehen. Ich konnte die Freude in seinen Augen erkennen. Es war eine kranke Freude.

Dann hörte ich wieder Schritte von draußen, kleine schnelle Schritte, die etwas Unerwartetes ankündigten: Rudi kam herein und er trug etwas in seinem Maul. Es war ein schwarzer Haarbüschel. Ich spürte genau, dass Rudi mich suchte. Er stand wartend da, als ob gleich etwas passieren würde. Der Mann hatte ihn noch nicht bemerkt.

Kurz darauf folgten Stimmen, die draußen aufgeregt diskutierten, während der Mann in seinem Raum mit mir beschäftigt war. Am liebsten hätte ich geweint, aber ich spürte keinen körperlichen Schmerz. Nur der grausame Anblick tat unendlich weh.

Plötzlich ging die Tür auf.

Die Polizei und ein Notarzt traten energisch hinein und stürmten die Hütte. Sie stürzten sich auf den Mann und legten ihm Handschellen an. Der Mann versuchte sich mit allen Kräften zu wehren und windete sich stumm. Er sagte kein Wort und wirkte geistig abwesend, wie in einem Trancezustand.

Rudi hatte ihn überführt, indem er mir helfen wollte und all den Leuten zeigte, was er im Wald gefunden hatte.

Der Notarzt tat alles, um mich ins Leben zurückzuholen und ich schaffte es tatsächlich wieder zurück. „Das war sehr knapp, junge Dame“, sagte er freundlich. Erschöpft schlief ich wieder ein. Mit dem Gedanken, dass nach dem Tod nicht alles zu Ende ist und Rudi mir das Leben zurückgeschenkt hat. Danke.

  

Vergessener Mond

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Wie jeden Abend entspannte Herr Feddersen sich mit einem Glas Rotwein vor dem Fernseher. Der Wein beruhigte ihn und sorgte für wohlige Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete. In dem Zustand konnte er gut einschlafen und machte anschließend den Fernseher aus. Mit diesem Ritual war sein stets routinierter Tag gelaufen und der Stress folgte ihm nicht in seine Träume.

Mitten in der Nacht klingelte plötzlich das Telefon auf dem Nachttisch und Herr Feddersen erschrak sich fürchterlich. Er meldete sich mit einem heiseren ‚Hallo‘, aber am Ende der Leitung ertönte keine Stimme, sondern nur ein diffuses Rauschen. Feddersen lauschte kurz und legte sich mit einem Blick auf den Wecker wieder schlafen. Es war zwei Uhr und es gab keinen Grund, weiter über komische Anrufe nachzudenken, da ihm gleich wieder die Augen vor Müdigkeit zufielen.

Kurze Zeit später wurde Herr Feddersen durch eine Art Bewegung wach, die sich subtil anfühlte. Es war, als hätte etwas seinen Rücken gestreift oder gar berührt. Er drehte sich um, aber was sollte er erwarten? Schließlich schlief seit Jahren keine Frau an seiner Seite. Dennoch lag das Bettlaken seltsam in Falten. So, als ob jemand dort gesessen hätte. Er strich es glatt und zog seine Hand reflexartig wieder weg, als ihm dabei ein Schauer über den Rücken lief.

Was war hier los?

Herr Feddersen schaute sich suchend um. „Quatsch, was soll das. Ich bin doch nicht paranoid. Wer soll hier schon sein“, murmelte er vor sich hin und zog sich die Decke über den Kopf, da ihm kalt wurde. Vielleicht tat ihm der Wein diesmal nicht gut.

Es war drei Uhr, seine Lider waren schwer und wollten Schlaf. Herr Feddersen verfiel ab jetzt in einen unerholsamen Halbschlaf, da sich diese Nacht anders anfühlte, als sonst. Jedes kleine Knacken im Zimmer war wie ein lautes Krachen und erweckte seine ganze Aufmerksamkeit. In ihm machte sich eine gewisse Unruhe breit, er fühlte sich auf einmal beobachtet. Als ob ihn etwas anstarrte. Er spürte Blicke, die unsichtbar waren und sein Herz fing an zu rasen. Sein Körper wurde schweißig und er traute sich kaum, sich zu bewegen.

Auf einmal hörte er aus der Küche ein schepperndes Geräusch. Es konnte nur die Blumenvase vom Tisch sein, die auf dem Boden zerbrach, denn das Geschirr stand längst abgetrocknet im Schrank.

Wie konnte die Vase ohne Weiteres vom Tisch fallen? Herr Feddersens Magen zog sich fast krampfartig zusammen. Er hatte schon als Kind all diese Gruselgeschichten gehasst, da er sehr ängstlich war und er in allem eine Wahrheit sah. Nun wartete er angespannt auf weitere Geräusche oder auf Schritte oder auf irgendetwas anderes. Aber es blieb vorerst still. Kein Rascheln. Nichts. Nur Stille. Er hoffte, dass es dabei blieb.

Die Uhr zeigte auf vier und Herr Feddersen war klitschnass vor Angst.

Er beschloss, nachzuschauen, was in der Küche passiert war, getrieben von Angst, Neugierde und eingeredetem Mut. Die Vase war tatsächlich vom Tisch gefallen und lag verstreut in vielen kleinen Teilen auf dem Boden. Er nahm sie erst letzte Woche von zu Hause mit, als Geschenk von seiner Mutter, da er diese Vase sehr liebte. Die Vase war sogar einige Jahre älter als er. Und nun lag sie dort erbärmlich in Scherben, die keinen Sinn mehr ergaben. Herr Feddersen war traurig und es tat ihm im Herzen weh, die Scherben zu entsorgen. Als er zurück ins Bett ging, dauerte die Nacht noch zwei Stunden. Tatsächlich versank er noch einmal in einem tiefen festen Schlaf und nahm in diesem Zustand nichts mehr von dem wahr, was in seiner Wohnung passierte. Von dem schwerfälligen Schlurfen im Flur wurde er nicht wach. Erst, als das Schlurfen direkt in seinem Zimmer endete, ihm schroff die Decke wegzog und ihn mit einem Ruck an den Füßen aus dem Bett schleifte.

Herr Feddersen erwachte völlig gelähmt vom Schock auf dem Fußboden. Um ihn herum war alles dunkel, obwohl sich um diese Zeit schon die Sonne durch die Jalousien ankündigte. Nur heute nicht. So lag er nun da, apathisch und in voller Panik, was als nächstes passiert. Er konnte nicht einmal weglaufen, sein Körper regte sich nicht und kein einziger Schrei entglitt aus seinem Mund.

Um fünf Uhr klingelte das Telefon erneut und sein Körper tat sofort wieder das, was er sollte. Herr Feddersen stand zitterig auf und lauschte. Am anderen Hörer meldete sich mit monotoner Stimme ein Arzt, um ihm mitzuteilen, dass seine Mutter im Laufe der Nacht verstorben war. Danach legte der Arzt den Hörer wortlos auf, ohne weitere Fragen zu beantworten und die Leitung begann zu knistern.

Herr Feddersen strömten die Tränen über das Gesicht und ließen seine Augen brennen, wie ein Feuer. Er konnte sie nur noch schließen. Die Lider wurden so schwer, als würden sie sich nie mehr öffnen.

Ein tiefer Schlaf folgte nach diesem nahezu unwirklichen Moment.

Um sechs Uhr klingelte wie gewöhnlich der Wecker und Herr Feddersen war bereit, für seine alltägliche Routine. Er wusste, die Nacht war nur ein Alptraum. Denn Alpträume hatte er immer bei Vollmond. Er hatte sich nur nicht darauf vorbereitet, weil er den Vollmond jedes Mal vergaß.

Einige Minuten saß er still auf der Bettkante, damit dieses unbehagliche Gefühl verschwand, dass er im Bauch hatte. Irgendetwas war heute anders.

Dann klingelte das Telefon. Herr Feddersen schrak auf. Er war im ersten Moment irritiert und zögerte. Sonst rief niemand so früh an, dann es gab nie einen Grund für frühe Anrufe. Nachdem das Telefon fünf Mal klingelte, nahm er vorsichtig ab.

Hallo“, fragte er mit einem ängstlich gereizten Unterton.

Guten Morgen, hier ist Dr. Clement.“

Herr Feddersen spürte eine Art von Übelkeit in sich hochkommen und er erinnerte sich sofort an den geträumten Anruf von letzter Nacht. Er kannte Doktor Clement. Er war der Hausarzt seiner Mutter.

Guten Morgen, Dr. Clement.“

Herr Feddersen war auf alles gefasst. Er hatte eine Ahnung, was jetzt kommt, denn Hausärzte rufen nie an, bevor nicht alles zu spät ist.

Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Ihre Mutter am Morgen tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde, wobei die Todesursache noch ungeklärt ist. Die Nachbarn haben sie schreien gehört und haben mich dann angerufen. Die Polizei ist auch hier. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn wir Genaueres wissen. Es tut mir sehr Leid.“

Herr Feddersen fehlten die Worte und die Sprache. Er legte wie gelähmt den Hörer auf und war nicht einmal mehr in der Lage zu weinen. Er blieb stumm auf seinem Bett sitzen. Und wartete. 

 

Urlaub mit Oma

Oban14

„Aua“, sagte ich genervt, als ich gegen Morgen aus dem Bett purzelte und mir den Kopf am robusten Nachttisch stieß. „Der Urlaub fängt ja gut an. Ich bin noch nie aus dem Bett gefallen.“
Meine Oma schaute mich amüsiert an, lachte aber nicht laut los, weil das nicht ihre Art war. Sie hielt sich selbst in komischen Situationen dezent zurück. „Hast du dir wehgetan?“, fragte sie mütterlich besorgt.
„Nur ein bisschen gestoßen. Fühlt sich an wie ’ne Beule“, sagte ich, während ich mit meinen Fingern vorsichtig die Stirn abtastete. Ich ging ins Bad und schaute prüfend in den Spiegel.
„Oh Mann, das sieht total dämlich aus. Total rot alles.“ Meine Oma konnte dazu nichts sagen, denn ohne Brille sah sie nicht besonders gut. Stattdessen wurde sie unruhig, weil gleich die Frühstückszeit unten im Saal begann. Ihre Nervosität war ansteckend, dauernd guckte sie auf ihre Uhr, die seit gestern stehengeblieben war. Aber ihre innere Uhr irrte sich nie.
„Wir müssen gleich los“, sagte sie und bewegte sich flott Richtung Tür.
„Ja, gleich. Ich muss mich doch erst mal anziehen. Du bist schon wieder viel zu früh fertig und zu schnell mit allem.“
Schnell kaschierte ich die rote Stelle an der Stirn mit Make-up und zog danach meine Schuhe an.
„Soll ich wieder den Zimmerschlüssel nehmen, Oma?“
„Ja, steck du ihn lieber ein.“
Dann betrachtete ich Oma, wie sie mit ihrer neuen, mit Vögeln verzierten Handtasche vor mir stand. Die hatte sie bei der Ankunft in Schottland gleich im ersten Gift-Shop gekauft und danach ihr Portemonnaie an der Kasse liegen lassen. Zum Glück hatte ich es noch mitbekommen und mir ihr Portemonnaie zur Sicherheit eingesteckt, damit das nicht noch einmal passierte. Ein Urlaub in Schottland war immer Omas größter Herzenswunsch gewesen, den sie sich lange nicht erfüllen konnte, da sie zu bescheiden war.
„Du schleppst schon wieder viel zu viel mit dir rum. Geld brauchst du jetzt eh nicht, Oma. Es ist schon alles bezahlt.“
„Ich nehme sie aber trotzdem mit. Man kann nie wissen.“ Danach gingen wir in den Speisesaal und gehörten wieder zu den ersten Gästen. Das Frühstück war wie immer typisch schottisch, aber wir gewöhnten uns bald daran, von ein paar Toastscheiben satt zu werden.
Anschließend ging es zurück ins Zimmer und wir beschlossen, nachher in die Stadt zu gehen, um uns ein paar Geschäfte anzuschauen. Oma fing an, ihre Tasche durchzusuchen und wurde immer ungeduldiger. „So klein diese Tasche auch ist, aber finden tut man trotzdem nichts.“
„Ja, Oma, das ist nichts Neues. Du verlegst ständig Sachen oder siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht.“
Oma wurde zunehmend vergesslicher und reagierte gereizt, wenn ich sie darauf ansprach, denn sie wollte es nicht wahrhaben. Lieber verdrängte sie es. Sie wollte das Wort ‚Alzheimer‘ nicht hören, da sie sich mit ihren 80 Jahren oft noch wie 25 fühlte.
Auf einmal starrte Oma mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Ich wurde beklaut. Ich kann mein Portemonnaie nicht finden. Guck“, sagte sie und hielt mir ihre zerwühlte Tasche hin.
„Das kann doch nicht wahr sein. Das war bestimmt dieser Mann, der gestern in unserem Zimmer war. Der hat uns schon so beäugt.“
Ich musste grinsen. Oma sah Sachen, die nicht immer ganz der Wirklichkeit entsprachen.
„Der Mann war harmlos, Oma. Weißt du noch vorgestern, als du deine schicke Tasche gekauft hast? Erinnerst du dich, was da passiert ist?“
„Ich weiß es nicht mehr.“
„Du hast dein Portemonnaie an der Kasse liegen lassen.“
„Ach Gott! Dann hat es bestimmt schon jemand anders mitgenommen“, sagte sie völlig außer sich vor Angst, und Unbehagen machte sich in ihr breit.
Ich holte meine Handtasche aus der Ecke hervor, zauberte unbemerkt ihr Portemonnaie heraus und versteckte es mit einer Hand geschickt hinter meinem Rücken.
„Was willst du nun machen, Oma?“, fragte ich gespannt.
„Ich bin ganz starr vor Schreck und meine Gedanken sind wie weggeblasen.“
Oma wirkte tatsächlich wie ein Häufchen Elend, das in der Vergesslichkeit zu versinken drohte.
„Sieh mal, Oma.“ Ich holte das Portemonnaie aus rotem Krokodilleder und mit goldenem Verschluss hervor und überreichte es ihr.
„Ach Gott, wie bin ich glücklich. Da ist es ja!“ Ich sah die Erleichterung in ihren Augen und sie blitzten vor Freude. „Du bist ein Engel!“
„Ja, Oma. Deswegen behalte ich ab jetzt lieber dein Portemonnaie, damit so was nicht noch mal passiert und du es nicht wieder vergisst.“
Der Urlaub mit meiner Oma war sehr schön und wir erlebten viel. Sie blühte richtig auf, als sie den schottischen Regen zum ersten Mal auf ihrer Haut spürte. Sie fing an, vor Freude im Regen zu tanzen und lachte so unbeschwert wie seit Ewigkeiten nicht mehr. Oma war glücklich und ich hoffte, dass sie einen Großteil dieses Glückes wieder mit nach Hause nahm.
Ich war froh, dass ich ihren größten Wunsch endlich erfüllen konnte, bevor sie auch diesen vergessen würde.

Rot

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Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden.

Auch als der Zug längst verschwunden war, blickte Lennard dem Nichts hinterher. Als die Bahnhofsuhr zwei Mal dumpf schlug, zuckte er zusammen. Zwei Uhr, mitten in der Nacht im Winter. Die Kälte zog bis in die Halle. Er empfand nichts außer dem Schmerz, der sich tief in seine Seele fraß. Eine Stunde lang stand er wie gelähmt in der Halle und rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis die Schachtel leer war. Der Qualm konnte seine Gefühle nicht betäuben. Dafür brachte er Übelkeit hervor und Lennard beschloss, langsam nach Hause zu gehen. Der eisige Wind fuhr durch seine langen Haare und kühlte sein vor Kummer glühendes Gesicht. Die zarten Schneeflocken auf seinen Wangen spürte er nicht. Küsse fühlten sich für ihn anders an. Aber die Küsse, nach denen er sich sehnte, bekam er nicht mehr.
An der Haustür erwartete ihn bereits seine aufgeregte Mutter. Sie trug nur ein leichtes Nachthemd und war ganz blass vor Schreck.
„Lenni, wo warst du? Ich habe mir solche Sorgen gemacht! Du kannst doch nicht einfach so abhauen!“
„Geh weg, ich will niemanden sehen jetzt“, sagte Lennard gereizt und schubste seine Mutter sanft beiseite.
„Lenni!“
Doch Lennard hörte ihr nicht mehr zu und ging in sein Zimmer, wo er sich gleich auf sein Bett fallen ließ, in seinem verschneiten Parka und mit den matschigen Straßenschuhen. Ihm war alles egal. Als er das rote Stand-By-Lämpchen an seinem Fernseher leuchten sah, erinnerte er sich wieder an die roten Lichter des abfahrenden Zuges. Für ihn war dieser Abschied der schlimmste Moment seines Lebens gewesen. Es war der Abschied von seiner ersten richtigen Freundin und ersten großen Liebe – Frieda. Sie war sehr spontan und rebellisch, das liebte er an ihr. Aber diesmal hasste er es. Ihr letzter Satz brannte sich in sein Gehirn: Es gibt mehrere große Lieben im Leben, man muss nur die Richtige finden. 
Er war nicht der Richtige für sie, trotz der drei langen aufregenden Jahre. Noch nie hatte sein Herz so wehgetan wie jetzt. Weinen konnte er nicht, das war Mädchenkram für ihn.
Als sein Handy leise in der Tasche vibrierte, hoffte er, dass es eine SMS von Frieda war. Auf dem Display stand: Hey, koppf hoch,..Wirst schon drüba hinwegkommen. Du findest schon ne andere, jeder ist doch iwie austauschbar, oder? lg
Lennard beschloss, nicht zu antworten und zu schweigen. Er konnte nichts an ihrer Entscheidung ändern und musste ihre Meinung akzeptieren. So oberflächlich sie auch klang, als ob er ihr nichts bedeutete. Er war zutiefst enttäuscht und gekränkt.
Dennoch liebte er sie, mit all ihren verrückten Fehlern und wahnsinnigen Stärken. Lennard hatte keine Ahnung, wie er die Nacht verbringen sollte, ohne an sie zu denken. Er griff unter sein Bett und holte eine Flasche Bier hervor, obwohl er gerade Lust auf etwas Härteres gehabt hätte. Irgendwann schlief er erschöpft ein.

Am nächsten Morgen klopfte seine Mutter an seine Zimmertür. 
„Lennard, guck mal, wer hier ist. Besuch für dich.“ 
Vor ihm stand Frieda, die über das ganze Gesicht strahlte, mit all den glitzernden Schneeflocken auf der grünen Strickmütze. Ihr Mantel war genauso rot wie die Lampen vom Zug. 
„Ich hab dich so vermisst, Lenni“, sagte Frieda und umarmte Lennard innig, „das Taxi steht noch vor der Tür. Hast du bisschen Kohle?“
Lennard nahm Frieda in den Arm und sagte: „Du durftest mich gerne arm machen, solange ich dich behalten konnte. Du bist mein größter Reichtum. Gewesen.“ 
Mit diesen Worten ging Lennard entschlossen in sein Zimmer, auch wenn es ihm schwerfiel. Ihr sprunghaftes Verhalten konnte er Frieda jedoch nicht verzeihen. Der Zweifel an ihrer Liebe und ihr sprunghaftes Verhalten war ein großer Vertrauensbruch, der ihre Beziehung in der Basis zerstörte. Lennard konnte das nicht zulassen und wollte seinen Stolz nicht verlieren. Er konnte ihr nicht verzeihen. Männer müssen so etwas verkraften können, dachte er sich. Auf welche Art auch immer. 
Eines Abends ging Lennard wieder zum Bahnhof. Er liebte dieses Gefühl der Sehnsucht, wenn die Nachtzüge den Bahnhof verlassen und er liebte das Gefühl der Hoffnung, dort eines neues Mädchen kennenzulernen. Ein Mädchen in einem roten Mantel. Liebevoll, charmant und vielleicht ein bisschen verrückt.

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Gunther Hecht: Aus dem Wasser, in die Pfanne

Leicht und geschmeidig gleite ich durch das trübe Wasser, an einem stillen sonnigen Herbsttag. Mein Magen ist mit Leere gefüllt und das Gefühl der Schwerelosigkeit nimmt zu – ich habe Hunger! Auf der Suche nach etwas Essbarem schaue ich mich nach Freunden und Familie um. Leider ist niemand zu sehen, bis auf ein paar glibberige Quallen, die ziellos im Wasser treiben. Ich habe sie noch nie gemocht, sie schmecken nicht. Hungrig suchend ziehe ich meine Bahnen. In der Ferne erahne ich auf einmal etwas, das mich interessiert. Dort bewegt sich etwas und es weckt meinen Jagdtinstinkt. Sofort schwimme ich näher heran und kann nichts anderes tun, als anzubeißen. Der Biss tut verdammt weh. Etwas Spitzes hat sich in meinem Maul festgefangen. Ich winde mich und versuche zu entkommen. Stattdessen werde ich an einem dünnen Bindfaden schmerzhaft hochgezogen. Ein letztes Mal fällt mein Blick zurück ins Wasser. Aus dem Augenwinkel heraus erkenne ich meine Frau Gertrud, die mir traurig hinterherguckt. Ich hätte ihr gerne noch gesagt, wie sehr ich sie liebe. Es tut mir Leid, dass ich so dumm war und auf diesen glitzernden Gummifisch hereingefallen bin.
Jetzt kommt ein großes Netz zum Einsatz, von dem ich gekonnt eingefangen werde und ich kann mich nicht dagegen wehren. Mir bleibt nicht anderes übrig, als mich meinem Schicksal zu ergeben und für mich wird es nicht gut enden, das spüre ich.
Dann werde ich mit einem Kopfschlag auf’s Boot geschmissen. Ich fühle mich ganz beduselt. Der Wind zieht barsch durch meine Kiemen und ich schnappe eifrig nach Luft. Meine Flossen zucken, aber ich komme nicht von der Stelle. Eine Minute später wird dieser unangenehme Zustand durch einen kurzen Messerstich beendet. Ich bin tot.
Anschließend werde ich in eine durchsichtige Plastiktüte gepackt und in einer kühlen Box verstaut, in der noch viel Platz ist. Neben mir liegt ein Messer, an dem altes Blut klebt. Ist das vielleicht der Ort, wo meine Freunde zuletzt waren? Jedes Mal, wenn die Klappe aufgeht, rechne ich mit toter Gesellschaft. Aber ich werde nur angeguckt und angefasst. Ich höre, wie eine Stimme sagt:“Ist der noch gut, Ali?“
„Jaaa“, schreit jemand.
Mir ist schon lange nicht mehr gut.
Mein Zeitgefühl habe ich zwar verloren, aber nach gefühlten Stunden bin ich immer noch alleine. Ich lausche, was draußen vor sich geht.
„Wir fahren nach Hause. Heute ist einfach kein guter Tag, nichts tut sich. Gar nichts, kein Biss, nichts. Ich bin echt traurig.“
Bin ich froh, dass Gertrud nicht angebissen hat. Ihr hohes Selbstwertgefühl hat ihr das Leben gerettet. Dennoch vermisse ich sie.
Hinter mir rattert der Motor und mein lebloser Körper vibriert rhythmisch in der Box.
Nach einer Weile wird der Deckel geöffnet und ich werde im Mondlicht durch die Gegend getragen. Ich habe keine Ahnung, wohin.
Irgendwer fragt direkt neben mir:“Oh je. Nur ein Hecht? Zeig mal.“ Wahrscheinlich sind sie enttäuscht, dass ich Gertrud nicht mitgebracht habe. Ich muss ständig an sie denken und vergesse alles um mich herum.
„Wir sind da, pack schon mal den Fisch auf den Tisch, bitte!“
Meine Gedanken werden abrupt unterbrochen. Den Fisch? Ich? Was passiert jetzt mit mir?
Wieder werde ich hektisch woanders hingetragen und in einem hellen Raum auf eine Zeitung gelegt. Mein Blick ist leer und mein Maul ist taub. Als ich das metallische Rascheln im Besteckkasten höre, werde ich hellhörig. Es klingt gefährlich!
„Zuerst schneidet man den Kopf und die Flosse ab“, sagt der Typ über mir und tut im gleichen Moment das, was er sagt.
„Und dann schneidet man einfach den Bauch auf und zieht das Messer so durch den Fisch. Das ist alles eigentlich gar nicht so schwer.“
Ich mag gar nicht dabei zusehen, was er mit mir anstellt und komme mir vor, wie in einem Splatterfilm. Konzentriert und geschickt werde ich mit einem großen Messer in Stücke geteilt. Mein Blut wird von der Zeitung aufgesogen und die anderen kleinen Reste werden mit einem nassen Lappen weggewischt. Alles, was von mir nicht gebraucht wird, landet im Müllsack. Mein leerer Magen auch.
Am Ende bleiben von mir vier mittelgroße Filets übrig, die behutsam in Mehl gebadet werden.
In der Nähe höre ich schon das nervöse Knistern in der Bratpfanne, die Butter wartet schon auf mich.
„Mittlerweile habe ich echt Hunger“, sagt Ali und legt mich in die Pfanne.
Ach ja? Den hatte ich auch und musste dafür sterben. Dafür sterben, dass ihr euren Hunger stillt und satt werdet. Wie gemein.
Meine letzte Station ist der Teller, eine Prise Salz hilft mir dabei, endgültig Abschied zu nehmen.
Wenigstens seid ihr nun glücklich, wenn ich euch schmecke.
Auf Wiedersehen, Gertrud.